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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Lapislazulibrocken in den Kupfertiegel.
    » Ex nihilo … «
    Er zündet das Talglicht unter dem Kupfer an.
    »  … nihil … «
    Er lauscht dem Knacken der zum Leben erwachten Steine.
    » … fit. «
    Ein Nebel aus Zinn wallt empor und schlägt sich als Pulver nieder. Die Luft knistert vor Spannung. Harriot wirft die Arme hoch und brüllt. Vier Jahrhunderte später brüllt er noch immer …

Washington, D.C.

    Herbst 2009

    51
    U nd das habe ich gesehen.
    Ein großer, kräftiger Mann mit runden Schultern geht an der Rückseite des Cathedral Arms die Treppe hinauf. Er trägt eine Sonnenbrille und, ungewöhnlich für einen Sommertag, eine Strickmütze. Er geht langsam, fast gemächlich, die linke Hand lässig hinter sich auf dem Treppengeländer.
    Alles in allem beanspruchte er nicht mehr als drei Sekunden auf der verwackelten, mit Schatten überhäuften Aufzeichnung der Überwachungskamera. Detective Acree hingegen ruhte viel stärker in sich. Er ging nirgendwohin.
    »Ich hatte ja nicht das Vergnügen, Mr. Wax kennenzulernen«, sagte er und schob den Laptop auf seinem Schreibtisch zu mir herüber. »Deshalb wäre es mir lieb, wenn Sie noch einmal hinsehen und mir sagen würden, was Sie davon halten.«
    »Was ich davon halte?«
    »Ich wüsste gern, ob dieser Herr hier Alonzo Wax ähnelt.«
    Ich spitzte die Lippen. Beugte mich vor und betrachtete die Gestalt auf dem Bildschirm mit demonstrativer Genauigkeit.
    »Wissen Sie was?«, sagte ich. »Ich verstehe, warum Sie es für möglich gehalten haben.«
    »Ja, nicht?«
    »Von der Größe her kommt es ungefähr hin.«
    »Genau was ich auch dachte.«
    »Aber sonst …«
    »Ja?«
    »Tja, wenn ich mir die verschiedenen Details ansehe, muss ich definitiv verneinen.«
    »Details …«
    »Schauen Sie, ich achte nur mal auf das Gesicht, ich meine, den Teil, den man erkennen kann. Es ist ein bisschen runder als das von Alonzo. Und Alonzo, der bewegt sich einfach auch anders. Eher schlingernd.«
    »Schlingernd.«
    »Außerdem die Hände und eigentlich noch viele andere Kleinigkeiten. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, Detective, ich kenne Alonzo schon so lange, und das ist er nicht.«
    »Nach bestem Wissen und Gewissen.«
    »In Anbetracht der Qualität der Aufzeichnung.«
    »Würden Sie vielleicht noch einmal hinsehen?«
    »Klar, gern, es ist nur … ja … nein. Ich glaube wirklich nicht.«
    Detective Acree lehnte sich zurück. Stützte das Kinn auf die zusammengelegten Hände.
    »Der Schwester von Mr. Wax«, sagte er unvermittelt, »haben wir die Aufnahme ebenfalls gezeigt.«
    »Ach, tätsächlich?«
    Ich betrat jetzt eine abschüssigere Bahn, das spürte ich. Ich spürte auch die drei Betablocker, die ich vorher zu Hause genommen hatte.
    »Was hat sie gesagt?«, fragte ich.
    »Sie hat einmal hingesehen und gesagt: Machen Sie sich nicht lächerlich. Mein Bruder ist tot. «
    »Ah.«
    Detective Acree strich sich über den üppigen Schnurrbart, der so gar nicht zu den zu klein geratenen Augen passen wollte.
    »Möchten Sie noch einmal schauen, Mr. Cavendish?«
    »Nein. Wirklich. Ich bin sicher.«
    »Also gut.«
    Wir erhoben uns. Ich streckte schon halb die Hand aus. Sein Arm bewegte sich nicht vom Fleck.
    »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
    »Das habe ich gern getan.«
    »Wie war Ihre Reise?«
    »Meine Reise.«
    »Nach England, glaub ich.«
    »Ja, stimmt.«
    »Alles gutgegangen?«
    »Ja, danke.«
    »Gut.«
    Kein Nicken. Keine förmliche Verabschiedung. Den einen Moment sah er mich noch an, im nächsten wendete er sich ab.
    Ich sah ihm dabei zu, wie er seine Scheibtischschublade aufzog und eine Packung filterlose Lucky Strikes herausnahm. Er zündete sich aber keine an, sondern wog sie nur in der Hand wie eine Packung Goldstaub. Ein Einblick, dachte ich, in August Acrees beschissenen Job.
    »Detective«, sagte ich.
    Seine gleichmütigen Augen schauten zu mir.
    »Falls es Sie interessiert, was ich glaube«, sagte ich. »Ich glaube, Alonzo Wax ist ertrunken. Ich glaube nicht, dass er noch mal wiederkommt.«
     
    Gut möglich, dass Detective Acree als intelligenter und von Berufs wegen misstrauischer Mensch sich die Londoner Zeitungen dieses Tages am Computer angesehen hatte. Aber wären ihm die Meldungen über einen nicht identifizierten Mann aufgefallen, der sich von der Kew Bridge gestürzt hatte? Hätte er in Erwägung gezogen, dass Alonzo Wax für seinen Abgang zweimal dieselbe Strategie genutzt hatte?
    Der Leichnam war Polizeiberichten zufolge noch

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