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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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gerade gekommen ist.
    Er soll zurückgehen?
    Das kann sie nicht meinen.
    Aber sie antwortet mit einem langsamen bestätigenden Nicken. Und biegt den Finger jetzt so energisch zur Seite, dass er nach
hinten taumelt, so als hätte sie ihm einen Schubs gegeben, und sich mit tiefem Unwillen durch die Gasse zurückzieht, an den vielen Asche- und Kothaufen vorbei, stumm nach ihr ruft, bereits um sie trauert …
    Margaret. Margaret .
    Höhere Ziele hat er nicht im Sinn, nur seine ureigenste, so qualvolle Pflicht. Und deshalb erträgt er Margarets Schrei, als er schließlich kommt, nicht. Kraftlos sinken seine Arme herab. Seine Lunge stellt den Dienst ein.
    Und dann rennt er.
    Rennt mit einer Schnelligkeit, die nur die panische Angst ihm verleihen konnte, und sieht weiter vorn den Wächter, der, aus seiner Apathie aufgeschreckt, sich langsam von seinem Stuhl erhebt, weniger beunruhigt vielleicht durch den Schrei als durch den Anblick Thomas Harriots, der wie ein Wahnsinniger auf ihn zugerannt kommt, und die Straße mit ersticktem Krächzen erfüllt.
    »Sie müssen die Tür öffnen! Eine Frau liegt im Sterben!«
    Der Wächter zieht ein finsteres Gesicht.
    »Ich weiß, dass sie stirbt.«
    »Nein! Nein, ich meine, sie ist tot  …«
    Sie sind nur noch einen Meter voneinander entfernt: Harriot keucht und japst, der Wächter zwingt ihn mit seinem Blick, die Augen niederzuschlagen. Dann zieht er mit einem Ausdruck tiefer Verärgerung den Schlüssel aus seiner Tasche und steckt ihn ins Schloss.
    Gute zwanzig Sekunden vergehen, in denen er mit der Tür kämpft. Dann öffnet sie sich schließlich knarrend zentimeterweise und gibt den Blick auf eine Gestalt frei, leichenblass. Auf eine Frau, die auf dem Rücken liegt, außer ihrem Unterkleid nichts am Leib, der Mund klaffend offen, die Augen blicklos zur Decke gerichtet.
    Margaret .
    Harriot hört den Wächter rufen.
    »Zurück!«
    Aber Anstand ist jetzt Nebensache. Harriot klappt vornüber wie
ein Blatt Papier, fällt auf Margarets leblosen Leib, drückt das Gesicht an ihres, umhüllt sie mit seinem Atem.
    Und dann sieht er, wie ein starres Auge sich langsam – langsam – schließt . Und etwas vollführt, worauf nur das Wort zwinkern passt.
    Ist es Schluchzen oder Gelächter, das jetzt aus ihm hervorbricht? Egal, was. Er weiß alles, was er wissen muss.
    »Ich hatte recht«, sagt er. »Sie ist tot.«
    »Dann lassen Sie mich sehen.«
    Sacht fährt Harriot mit der Hand über Margarets Gesicht, schließt die Lider.
    »Wie Sie wünschen. Ich bin aber nicht verantwortlich, wenn …«
    Er braucht nicht zu Ende zu sprechen. Der Wächter, so gleichgültig er sich bisher gezeigt hat, ist stolz auf seine robuste Gesundheit, bewacht sie eifersüchtig , leidet es nicht, dass sie Schaden nimmt. Und so steht er dort, grummelt verdrossen, während Harriot mechanisch prüft, ob noch Leben in dem Leib ist, Atem, ein Puls.
    »Das ist sehr bedauerlich. So jung.«
    Der Wächter schweigt. Und Harriot fügt unter dem Druck dieses Schweigens hastig hinzu:
    »Ich bin Arzt, versteht sich.«
    Er hört die Falschheit in seinem Ton, fährt aber fort.
    »Selbstverständlich werde ich mich um die Tote kümmern. Ich weiß zufällig – ich glaube, es gibt da einen Friedhof – nicht weit von hier …«
    »Einen Friedhof .«
    Ein drohender Unterton in der Stimme des Wächters. Seine Augen sprechen Bände. Seine Lippen teilen sich zu einem schwarzen Lächeln.
    »Das ist sehr christlich von Ihnen, Sir. Aber es scheint, dass Sie von Ihrer Last befreit werden.«
    Harriot versteht anfangs nicht, wovon der Mann spricht. Dann hört er das Bimmeln einer Glocke und eine hohe Männerstimme, die die Straße hinabruft.
    » Bringt eure Toten heraus. Bringt eure Toten heraus … «
    Harriot schaut zu der offenen Tür hinaus und erblickt einen
dreirädrigen Wagen, der durch den Straßenkot rollt, gezogen von einem Hünen mit strohblondem Haar und einem hellroten Stab in der Hand.
    Wie eine Szene aus der Mythologie , denkt Harriot betäubt. Doch ins Auge springt ihm eigentlich weder der Mann noch sein Gefährt, sondern die Ladung. Ein Gewirr aus menschlichen Gliedern. Tote über Tote gehäuft.
    Der Leichenkarren.

 

    49
    W eil ihr ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet ist, jeden Pulsschlag zu dämpfen, jede Regung, deshalb dauert es so lange, bis Margaret begreift, was mit ihr geschehen soll. Sie hört Harriot schreien: »Es gibt keinen Grund dafür! Das ist abscheulich. Ich verbiete es.«
    Worauf der Wächter kühl

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