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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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antwortet:
    »Darüber haben wohl nicht Sie zu befinden, oder? Hier! Edgar!«
    Wer ist Edgar? Bei geschlossenen Augen kann ihr Gehör noch feiner unterscheiden: das Knarren der Wagenräder, die Reibung, verursacht von der derben Wolle einer Männerhose, das Ächzen des Wächters.
    »Ich hab hier eine für dich.«
    »Alter?«
    »Sag du es mir.«
    »Name?«
    »Crookenshanks.«
    »Taufname?«
    Und da vernimmt sie ihn: den Namen, den sie seit fast fünfzehn Jahren nicht mehr gehört hat, den Namen, den sie vergessen hatte. Aus den alten Taufregistern hervorgezogen.
    »Wann gestorben?«
    »Gerade eben. Dieser christliche Herr hier kann es bestätigen.«
    Sie hat nichts zu befürchten, sagt sie sich. Edgar ist ein Gemein
dediener. Er registriert ihr Ableben, wie er es wohl bei ihrer Mutter getan hat. Klappt ihr Lebensbuch zu. Wie gut sie die zwei übertölpelt hat! Sie ist fast erleichtert.
    Warum ist Harriot dann so aufgeregt?
    »Das dürfen Sie nicht!«
    »Das soll nicht Ihre Sorge sein, Sir.«
    »Sie haben kein Recht dazu!«
    »Ich ersuche Sie, sich zurückzuziehen, Sir.«
    Gehorcht Harriot der Aufforderung? Kann es sein, dass er fortgeht?
    Und wieder ist es ihre Haut, die einen Hauch kühler wird und die Veränderung registriert. Und die, vermöchte sie es, rufen würde:
    Bleib …
    Doch als sie den Wächter hört, weiß sie, dass es aussichtslos ist. Denn er spricht frei heraus, wie er es niemals tun würde, stünde der fragliche Herr daneben.
    »Ein Leichenräuber, wenn du mich fragst.«
    »Davon gibt's jede Menge«, antwortet Edgar, der Karrenmann.
    »Kann von Glück sagen, dass ich ihm keine reingehauen hab.«
    Warum schreist du nicht auf, Margaret? Warum lässt du zu, dass sie dich mitnehmen?
    Die Antwort kommt mit kühler Klarheit.
    Weil du in dieses entsetzliche Haus zurückgebracht wirst, wenn du die List nicht durchhältst. Und das Haus bringt die Arbeit zu Ende, die es bereits begonnen hat.
    Bleib hier, und du bist so gut wie tot. Im Freien hast du eine Chance.
    So jedenfalls sagt sie es sich selbst. Das Versprechen der Freiheit jedoch verblasst in den wenigen Sekunden, die nötig sind, sie in das Tuch einzuschlagen. Sie kann dankbar sein, dass sie die Haut der anderen nicht an ihrer spüren muss. Aber dann heben sie sie vom Boden auf … schwenken sie: einmal, zweimal … lassen los … und sie merkt mit einem Anfall von Entsetzen, dass sie fliegt.
    Nicht aufwärts, wie sie für einen Moment beinahe geglaubt
hätte, sondern parallel zur Erde. Und landet schließlich auf einem Haufen grausam spitzer Gegenstände.
    Ihr Selbsterhaltungstrieb reicht so weit: Sie stellt sich vor, sie liege auf Gemüse. Auf knubbeligen Steckrüben und Karotten und Roten Rüben. Ihrem Bett für die Nacht.
    Aber der Haarschweif, der sich auf ihre Lippen legt, der ist nicht pflanzlich. Der gehört zu einem Tier.
    Und das macht die Illusion zunichte. Die Pflanzen werden zu Ellenbogen, Knien, Zehen. Und noch bevor ihr der Gedanke an Widerspruch kommt, setzt sich der Karren ruckelnd in Bewegung, und der Karrenmann läutet abermals sein Glöckchen.
    » Bringt eure Toten heraus! Bringt eure Toten heraus! «
    Jetzt weiß sie genau, wohin es geht. Zur Pestgrube.
     
    Sie nimmt kaum wahr, wenn der Karren über einen dicken Kopfstein ruckelt oder in ein Loch fährt. Sie zuckt nicht einmal zusammen, als drei neue Tote auf sie geworfen werden; sie ist sogar dankbar für den Schutz, den sie gewähren. Denn jetzt kann sie wenigstens ihre Maskerade beenden. Kann die Augen aufschlagen.
    Allerdings blickt sie direkt in einen Mund hinein.
    Ob den eines Mannes oder einer Frau, weiß sie nicht. Sie sieht nur ein kleines Universum aus Zunge und Gaumen und grauen Zähnen. Die nach ihr schnappen.
    Sie würde ja schreien, aber der Druck der anderen Leiber erstickt den Schrei in ihrer Brust. Sich zu bewegen ist ausgeschlossen, das Atmen eine Pein. Durchhalten ist alles. Denn der Karrenmann tut seine Pflicht: stark, geduldig, unermüdlich. Ohne Ende fährt er die Straßenzüge ab und ruft zu den Häusern hinüber. Ein Mann, der mit seinem Beruf verheiratet ist.
    Zwischen den geschwürigen Leibern eingeklemmt, betet Margaret, wie sie selbst merkt, nicht um Befreiung, sondern um … einen Gottesdienst. In ihrer höchsten Not wünscht sie sich nichts mehr, als dass die vollzählige Gruppe der Diener Gottes – Vorleser, Kirchendiener, Priester, Totengräber – sie zu ihrer Unterkunft geleiten möge.
    Und da ertönen, als wollten sie ihren Wunsch

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