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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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vielleicht die ganze Welt gern Ihr Geheimnis erfahren würde.«
    »Die Welt würde sich langweilen«, sagte sie. »Wenn Sie's wissen wollen, ich habe mir eine Abfindung auszahlen lassen. Von einer Firma namens StrategoStats, die sich auf automatisierte Content Compliance spezialisiert hat. Dreiundzwanzig Mitarbeiter, Zentrale in Manchester, New Hampshire. Der Umsatz im Jahr 2006 belief sich auf 83,1 Millionen Dollar. Wenn Ihnen das nicht reicht, Henry, können Sie das Unternehmen googeln.«
    »Und warum sind Sie nach Washington gekommen?«
    Ihre dunklen Wimpern senkten sich kaum merklich.
    »Um Alonzo die letzte Ehre zu erweisen.«
    »Er wäre gerührt.«
    »Und um zu lernen.«
    »Was?«
    »Alles.«
    Sie schob das Papier ins Handschuhfach zurück. Dann streckte sie die Beine aus und lehnte den Kopf zurück.
    »Schon gut, Henry. Ich erwarte nicht von Ihnen, dass Sie mir trauen.«
    Und warum sollte ich einer Frau auch trauen, die sich nicht mal anständig zu einer Beerdigung anziehen konnte?
    Andererseits: Wie vertrauenswürdig war ich selbst? Mein Toyota gehörte genau genommen nicht mir, sondern einer Exfreundin, die jetzt in Hoboken wohnte und genau genommen nicht wusste, dass ich ihn hatte. Um den juristischen Aspekt der Sache
hatte ich mich nicht groß gekümmert, da ich, bis Bernard Styles aufgetaucht war, sowieso kein Geld gehabt hatte, um das Auto aus dem Parkhaus in der Pennsylvania Avenue zu holen. Dort hatte es jahrelang Staub gesammelt, und als Clarissa und ich es abholten, war die Schicht so dick, dass jemand mir etwas aufs Heckfenster geschrieben hatte.
    Herrgott noch mal  …
    »Das ist interessant«, hatte Clarissa gesagt. »Was denn Herrgott noch mal? Ah, da geht's ja noch weiter. Wasch mich endlich .«
    Wir fuhren am Splash Car Wash in der South Capitol Street vorbei, besorgten uns bei McDonald's nebenan ein paar Sandwiches zum Frühstück, und fuhren auf die 95 South. Das Radio ging nicht, dafür brummte und klapperte der Wagen, und in meinem Kopf summte es. Das Bild von Lily, wie sie aus dem Tresor kippte. Dazwischen Halldors Touristen-T-Shirt und Alonzos blutbefleckter Regenmantel.
    Und in all das verwickelt: Clarissa. Ihre asketische Gestalt, die schmalen Handgelenke und dieses imposante Schlüsselbein, das auf verborgene Kräfte schließen ließ. Und der Schweißgeruch von da, wo ihre Schenkel den Sitzbezug berührten.
    »Wenn Sie mal fahren möchten«, sagte ich schließlich.
    »Gern«, sagte sie. »Sie fahren wie meine tote Oma.«
    Wir bogen auf einen Rastplatz an der Route 64 ein. Entwaffnend neu und sauber, mit Bogenfenstern und Fernsehern, auf denen CNN lief, und mit einem drallen intergalaktischen Pepsi-Automaten, aus dem Clarissa zwei Dosen Cola light holte. Die erste trank sie in einem Zug aus: den Kopf im Nacken, ließ sie sich das Zeug in einem gleichmäßigen Strahl in die Gurgel laufen.
    Die andere Dose stellte sie in den Dosenhalter des Wagens. Das war die erste von mehreren fast komischen Vorbereitungen, die sie traf. Seitenspiegel? Okay. Innenspiegel? Okay. Sitz exakt im Winkel von 12,5 Grad eingestellt? Okay. Fehlte nur noch die Starterlaubnis aus Houston.
    »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte sie. »Wahrscheinlich brauchen wir einander gar nicht zu trauen. Diesem Styles trauen Sie ja auch nicht, und trotzdem arbeiten Sie für ihn.«
    »Arbeiten.« Ich klappte die Sonnenblende runter. »Solange er mir keinen Zuschuss zur Altersversorgung zahlt, und davon ist mir nichts bekannt, bin ich nicht sein Angestellter. Ich beschaffe ihm lediglich etwas.«
    »Wie ein Berater.«
    »Wenn Sie so wollen.«
    »Sie trauen ihm trotzdem nicht.«
    Ich sah nach den Eichen und Kreppmyrten am Straßenrand, verdorrt in der Hitze des Spätsommers.
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Leute werden eben sehr schadensanfällig, wenn er in der Nähe ist. Die Versicherungsstatistik stimmt plötzlich nicht mehr.«
    »Sie glauben, er könnte etwas mit Lilys Tod zu tun gehabt haben.«
    »Ja. Richtig, genau. Und nicht nur mit Lilys.«
    Sie sah mich an.
    »Alonzo?«
    »Sie haben es doch selbst gesagt, erinnern Sie sich? Alonzo war nicht der Typ, der sich umbringen würde. Denken Sie an die Nachricht, die er uns hinterlassen hat. Das war kein Macht's gut , das war Hey, wisst ihr was? Die Schule der Nacht ist wieder da. Er war tatendurstig. Er hatte etwas vor.«
    Es sei denn, dachte ich, er war so weit gegangen, dass es kein Zurück mehr gab.
    »Bei dieser Nachricht«, sagte Clarissa, »muss es um den

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