Algebra der Nacht
Ralegh-Brief gegangen sein.«
»Das glaube ich auch.«
»Demnach hält er ihn für authentisch.«
»Ganz sicher. Und Bernard Styles tut das auch. Warum würde er sonst so einen Aufwand treiben, um ihn wiederzubekommen?«
Darüber dachte sie erst einmal nach.
»Sie meinen, der Brief war ihm so wichtig, dass er Alonzo umgebracht hat.«
»Keine Ahnung.« Ich zuckte mit den Schultern. »Denkbar wäre es, das müssen Sie zugeben.«
»Aber Styles ist ein Büchermensch , oder? Und Büchermenschen trinken Tee und laufen in Strickjacken rum …«
Nun erzählte ich ihr von Cornelius Snowden, dem Inbegriff eines Büchermenschen, der wegen eines einzigen Buchs mitten im Zentrum von London getötet worden war. Und je genauer ich die Umstände schilderte, desto mehr näherte ich mich Alonzos Deutung dieser Umstände. Und hatte nicht auch ich schon zu spüren bekommen, wozu Bernard Styles fähig war? Bildete ich mir wirklich ein, er würde vor einem Mord zurückschrecken, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte?
Wir schwiegen eine ganze Weile. Sogar das Klappern des Wagens schien unter dem Gewicht unserer Gedanken nachzulassen.
»Eins würde mich aber doch interessieren«, sagte Clarissa.
»Was denn?«
»Halten Sie den Brief für echt?«
Ich lehnte den Kopf ans Fenster. Und in dem Augenblick erschien mir das Glas nur mehr als höchst feines Häutchen zwischen der Hitze draußen und der arktischen Front im Innern des Autos. Mein Kopf ruhte nicht auf Materie, sondern auf einer Idee.
»Wissen Sie was?«, sagte ich. »Ich bin aus dem Spiel schon lange ausgestiegen. Ich bin der Letzte auf der Welt, der Ihnen Auskunft über eine Walter-Ralegh-Handschrift geben kann. Glauben Sie mir.«
Meine Augen waren noch zu, aber ich konnte sie spüren. Die Hitze ihres Blicks.
»Aber Sie haben doch an einem College unterrichtet, stimmt's? Sie hätten sich irgendwo um eine feste Dozentenstelle bemühen sollen.«
»Hab ich ja.«
Eine besonders lange Pause.
»Okay«, sagte sie. »Ich verstehe, wenn Sie nicht darüber sprechen wollen. Wenn es Ihnen zu viel wird, können Sie es ruhig sagen.«
Mir war es zu viel. Aber in dem Moment – fragen Sie mich
nicht, warum – fand ich es einfacher, mit der Wahrheit herauszurücken, als mich davor zu drücken.
Und so erzählte ich ihr von einem jungen Assistenzprofessor an einer Universität im östlichen Pennsylvania, der eines Tages ein kostbares Geschenk erhielt. Ein bis dato unbekanntes Gedicht von Walter Ralegh.
Und zwar nicht irgendeins, sondern ein Liebesgedicht, geschrieben an Raleghs junge Frau Elizabeth Throckmorton. Sie war eine Hofdame der Königin gewesen, aber als herauskam, dass sie und Ralegh heimlich geheiratet hatten (weil nämlich ihr erster Sohn geboren wurde), ließ die Königin in ihrem Zorn Ralegh in den Tower werfen. Er konnte sich seine Freiheit zwar erkaufen, gewann aber weder seinen Platz im Herzen der Königin noch den am Hofe zurück.
Das Gedicht war erst kurz zuvor entdeckt worden. Es handelte davon, was es ihn kostete, die Frau zu lieben, die ihm den Untergang gebracht hatte – die Frau, die zufällig denselben Vornamen trug wie die Königin. Der Effekt war, auf den ersten Blick, reizvoll und komplex: Ralegh, der den beiden Elisabeths ausgesetzt war.
Zwei Gutachter bestätigten die Echtheit des Dokuments, aber der Anbieter – ein Peruaner mit Wohnsitz auf den Cayman Inseln, der mit Bibliophilien spekulierte – forderte einen stolzen Preis. Ein Teil des Geldes kam aus Forschungstöpfen, ein zweiter vom Dekan, ein dritter aus einem Stipendium. Und der Rest? Den lieh ich mir von Alonzo Wax.
Bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Renaissance-Studien präsentierten wir das Dokument der Öffentlichkeit. Aber nicht auf die übliche piefige Art – zwanzig Minuten, acht Seiten, in einem kleineren Veranstaltungsraum abgespult –, sondern in einem großen Ballsaal mit Hunderten von Akademikern, Journalisten und Fotografen. Mein großer Artikel war für die Folgewoche in der führenden Fachzeitschrift angekündigt und der Buchvertrag mit einem angesehenen Universitätsverlag bereits in der Mache. Kurzum: eine Atmosphäre unendlichen Entzückens.
Die Diskussion lief seit zehn Minuten, da erhob sich ganz hinten im Saal ein älterer Professor aus Berkeley mit getupftem Frank-Sinatra-Schlips und meldete mit sanfter Stimme:
»Ich fürchte, Sie wurden in die Irre geführt, Professor.«
Der Peruaner hatte ihm das Gedicht ebenfalls angeboten. Allerdings mit der
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