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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Nacht.

         George Chapman , Der Schatten der Nacht

Isleworth, England

    1603

    10
    E r träumt immer noch von Virginia.
    Dort herrscht ewiger Hochsommer. Die Luft ist feucht und schwer, der Dunst verfaulender Dattelpflaumen durchdringend. Die Wolken trunken vor Sonne.
    Er war noch ein junger Mensch, als er dort hinfuhr. Fünfundzwanzig: vollgestopft mit Buchgelehrsamkeit, lichtscheu. In keiner Weise vorbereitet – wie denn auch? – auf die Fülle, die ihn erwartete. Tapisserien aus seidigem Gras. Zedern und Tannen, Ahorn und Eichen. Kürbisse in allen Formen. Austern, Muscheln. Walnüsse mit dicken Schalen und Erdbeeren von überirdischer Süße. Ein Fluss, an manchen Stellen so breit wie die Themse. Mehr als er in manchen Augenblicken ertrug, und doch, noch unerträglicher war ihm nach einiger Zeit der Gedanke, das alles wieder verlassen zu müssen.
    Hin und wieder packte das Wunder dieser Welt ihn an der Gurgel. Irgendwo in dieser salzzerfressenen Wildnis lauerten (seiner Schätzung nach) achtundzwanzig Arten wilder Tiere, die noch kein Mensch des Westens je gesehen hatte. Und wer war der Mann, der den Auftrag hatte, sie zu finden, zu bestimmen, zu benennen? Tom Harriot aus Oxfordshire. Kartograph einer neuen Welt.
    Wochenlang streifte er ungehindert umher. Jeder Tag ein neuer Tag: Er zeichnete den Flug eines Merlinfalken auf, vermaß die Länge des hier heimischen Herings, verglich die verschiedenen Zubereitungsarten der Okindgier -Bohne (flacher als die englische
Bohne und im Geschmack so gut wie englische Erbsen), untersuchte die Färb-Eigenschaften der Tangomóckonomindge- Rinde. Inzwischen überließen die Algonkin ihn meistens sich selbst, Stunden und Tage blieb er unbehelligt und ward nicht eines einzigen Menschen gewahr. In seinen stillsten Zeiten wähnte er, Herr einer eigenen unermesslichen grünen Insel zu sein.
    Hier werde ich sein , so hat er damals gedacht und es bis heute nicht vergessen. Immer .
    Doch außerhalb seines friedlichen Königreichs ging alles aus den Fugen. Von Anfang an hatten die Siedler Streit mit den Indianern gehabt. Scharmützel brachen aus, Dörfer wurden überfallen und niedergebrannt, ein Häuptling ermordet. Als Sir Francis Drake einen unerwarteten Besuch abstattete, stürzten sich die Anführer der Kolonie auf sein großzügiges Angebot. Zurück nach England! Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass einer von ihnen vielleicht zu bleiben wünschte.
    Ein Hurrikan tobte, als sie in See stachen. Der Himmel war schwarz, die Brecher hoch wie die Masttopps, und ständig lief die Pinasse mit Harriot an Bord auf Sandbänke auf. Um aus den Untiefen fortzukommen, begannen die Matrosen allen möglichen Ballast abzuwerfen. Schweigend sah Harriot seine Kisten und Bücher, seine Aufzeichnungen und Instrumente – Astrolab, Kreuzstab und Magnetstein – in den schäumenden Fluten versinken. Als die Seeleute fertig waren, blieben ihm nur noch die Kleider an seinem Leib, ein paar Bogen Papier, die er sich in die Stiefel gestopft hatte, und eine Handvoll Wurzeln in seinen Taschen.
    An die Heckreling von Drakes Dreimaster gelehnt, sah er die Küste in Dunst und Hagel verschwinden.
     
    Die Wildnis ist nur noch eine ferne Erinnerung, denn er lebt jetzt im Schatten eines der vornehmsten Häuser von England. Hier ist die Natur von Unkraut befreit, zurückgedrängt, gezähmt. Für Harriot ist es daher ein besonderes Vergnügen, wenn der Altarm der Themse drei- oder viermal im Jahr über die Ufer tritt, zu beobachten, wie die schlammige braune Brühe sich auf die Galerie von Syon House zuwälzt.
    Wo sie vom Hausherrn mit gebührendem Zeremoniell empfangen wird. Niemand kann die Flut umkehren – man hat es versucht –, aber wenn einer es doch könnte, dann Henry Percy, der Graf von Northumberland, ein musterhafter Vertreter des modernen Hochadels: skeptisch, aber loyal, impulsiv, aber maßvoll, bedachtsam, aber schlagfertig. Zerstreut, gesellig, ein brillanter Kopf, Schutzherr von Dichtern und Gelehrten. Sein Stammbaum ist edel und reicht weit zurück. Acht Grafen sind ihm vorausgegangen; viermal hat die Königin an seiner Tafel gespeist. Von den Türmen von Syon House kann er im Norden Ealing sehen, im Westen Isleworth, im Osten London und im Süden den königlichen Palast zu Richmond. Und rundherum erstrecken sich 4000 Morgen Wald und Äcker und Weideland, die seiner Herrschaft unterliegen.
    Es zeugt von seiner Gemütsart, dass selbst sein Grundbesitz, der unstrittige Beweis seiner

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