Algebra der Nacht
Auskunft, es sei von Marlowe.
»Zuletzt«, sagte ich, »haben wir noch herausgefunden, wer der wirkliche Autor war. William Henry Ireland.«
»Nie gehört, den Namen.«
»Eine berühmte Kanaille aus dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert. Hat einmal ein komplettes Shakespeare-Drama gefälscht. Plus einen Brief von Shakespeare an seine Frau, als Beigabe eine Locke vom Haar des Barden. Um seine Spur zu verwischen, schrieb er auf die leeren Seiten von Büchern aus elisabethanischer Zeit. Auf die Weise konnte er etliche Gutachter täuschen. Na ja«, sagte ich, »das Ende kam rasch. Mein Artikel war nun wertlos. Der Buchvertrag wurde annulliert. Keine einzige Zeitschrift auf der Welt wollte irgendetwas von mir drucken. Die Frau des Dekans hielt beim Fakultätsempfang traurig Ausschau nach mir. Ich war erledigt.«
»Das also war Ihr Verbrechen«, sagte Clarissa. »Sie wurden hereingelegt.«
»Mit etwas mehr Glück hätte ich die Sache vielleicht noch ins Postmoderne wenden können. Sie wissen schon: Hier meine dekonstruktivistische Lesart der Dualität von Authentizität und Täuschung. Ich meine, Authentizität, was ist das schon?« Ich schüttelte den Kopf. »Aber so etwas konnte ich einfach nicht durchziehen, nicht mit voller Überzeugung. Und ich ertrug es nicht, die Fachbereichs-Niete zu sein.«
»Sie wären nicht die erste gewesen.«
»In Henrys Welt schon. Wissen Sie, wie Leute reden, wenn es ein Thema gibt, über das sie nicht reden sollen? Die Stimmen bekommen etwas sehr Gepresstes . Das spielt sich zwar nicht laut ab, fühlt sich aber so an.«
»Und so sind Sie dahin gegangen, wo es still war.«
»Ich bin dahin gegangen, wo ich Freunde hatte. Und ich hatte
inzwischen nur noch einen Freund: Alonzo. Deshalb bin ich in Washington gelandet.«
Ich zwang mich, meine Augen offen zu halten.
»Alonzo kannte viele Leute, und ich brauchte Arbeit. Es kam mir vor wie ein guter Plan, damals vor sieben Jahren. Sie sollten mir übrigens dankbar sein, dass ich Ihnen die vielen Monate, in denen es in meiner Seele rabenschwarz aussah, erspart habe.«
Und es war ja noch schlimmer geworden, dachte ich: die Jahre, in denen in meinem Kopf alles grau war. Ein Job als außerordentlicher Professor in einem Community College, wo ich für 2000 Dollar pro Semester unterrichtete, wie man Aufsätze schreibt. Textbausteine für die Formulierung von Vereinsstatuten. Restaurantkritiken für eine alternative Wochenzeitschrift. Korrekturlesen, Verfassen von Lebensläufen, Jobs als Anwaltsgehilfe. Eine Strecke als Lobby-Journalist, wo ich, je nachdem, von wem der Auftrag kam, entweder für eine höhere Besteuerung fossiler Brennstoffe plädierte oder vor Klimahysterie warnte. Broschüren für ein jüdisches Ferienlager. Abendkurse in Kunstvereinen. Saisonarbeit bei Eddie Bauer.
Ja, ich ersparte Clarissa einiges. Und mir selbst noch mehr.
»So, jetzt wissen Sie Bescheid«, sagte ich.
»Nein, warten Sie. Es geht ja noch weiter. Jahre vergehen. Und plötzlich taucht ein Mann namens Bernard Styles auf der Bildfläche auf. Sagt: Hey, ich hab da einen Brief von Walter Ralegh. Cool, was? Und Sie denken …«
»Machen Sie mich nicht fertig.«
Sie lachte. »Sie hätten ihm doch sagen können, er soll sich verziehen.«
»Ja, aber er hat mir einen kleinen Scheck in die Hand gedrückt. Und vor Barem hab ich großen Respekt.«
Sie dachte kurz darüber nach und sagte dann in misstönend munterem Ton:
»Wollen Sie wissen, was mich ärgert? Dass wir den Rest des Briefs nicht haben. Ich wüsste zu gern, an wen er geschrieben ist. Wer ist dieser ›schützende Genius‹?«
»Tja. Er.«
»Oh, mein Gott.«
»Was?«
»Sie wissen, wer es ist, Henry. Bestimmt, Sie wissen es.«
Aber ich hatte es gar nicht gewusst. Erst in diesem Moment, als alles, was sich in meinem Innern aufgestaut hatte – die Ereignisse der vergangenen Woche, das Brieffragment –, sich mit früher geführten Gesprächen und fast vergessenen Bildern und dem Blick auf die weißen, vom Wind geschliffenen Strände North Carolinas überlagerte und zu einem konkreten Wesen fügte. Und dieses Wesen hatte einen Namen.
»Harriot«, sagte ich. »Der Adressat des Briefs war Thomas Harriot.«
Teil Zwei
˜
All ihr mit unbedrücktem Sinn beschenkten Geister,
Flinker Gedanken Herren und Meister,
Kommt, weiht mit mir der heilgen Nacht
All euer Streben, tut das Licht in Bann und Acht …
Noch nie hat eine Feder Ewiges vollbracht,
Die nicht getaucht war in den Saft der
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