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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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betrachtete sie länger als strenggenommen nötig gewesen wäre. Dann legte sie unvermittelt den Kopf in den Nacken und sah zu mir herauf. Winkte.
    »Oh, ja, hi«, sagte ich ins Telefon. »Woher wissen Sie, wo ich wohne?«
    »Ich habe Sie abgesetzt. Im Taxi. Gestern Nacht.«
    »Stimmt ja.«
    »Kann ich raufkommen?«
    »Ehrlich gesagt sieht es hier ziemlich wüst aus.«
    »Dann schmeißen Sie sie raus.«
    »Wen?«
    »Ihre Putzfrau. Hat wohl nicht viel genützt, dass sie gestern bei Ihnen war.«
    »Oh. Ja. Hören Sie, geben Sie mir zehn Minuten. Ich komm gleich runter.«
    An diesem Tag roch sie nach Sonnenschutzcreme. Nach einer dieser fettfreien Emulsionen für Sportler, bei denen man unwillkürlich an das Aftershave seines Vaters denken muss. Und, ehrlich gesagt, ihre Shorts hätten ohne weiteres aus dem Schrank meines Vaters stammen können. Das Schöne daran war, dass sie ihre Beine freiließen, die schlank und maßvoll muskulös waren. Ich gab mir alle Mühe, nicht zu starren. Ich bin nicht sicher, ob es mir gelang.
    »Gehen wir in den Stanton Park«, sagte Clarissa. »Da ist es schattiger.«
    Anfangs ging sie so schnell, dass ich kaum mitkam. Aber ein paar Blocks später ließen ihre Kräfte nach. Und als wir den Park erreichten, sah sie aus, als schleppe sie sich durch die Sahara.
    »Was für eine Hitze«, keuchte sie.
    Wir fanden eine Bank unter einem Kirschbaum. Ich bot ihr ein Stofftaschentuch an – und bemerkte erst hinterher die zahllosen Löchlein darin. Wir schwiegen beide.
    »Sie kennen sich hier offenbar aus«, sagte ich schließlich.
    »Ich wohne da drüben in der Fourth Street. Zur Miete.«
    Nicht zu fassen. Demnach war Clarissa Dale meine Nachbarin. Wie lange ging das schon so?
    »Eine Wohnung«, sagte ich. »Das hört sich nach etwas Dauerhaftem an?«
    »Für mich nicht.«
    Auf den Bänken uns gegenüber saßen Kindermädchen wie auf der Stange. Ihre verschränkten Arme bildeten eine gerade Linie, und sie beobachteten uns mit bösen Ahnungen, und ihre jungen Schutzbefohlenen ließen die Malkreide sinken oder erstarrten beim Erklettern der Rutsche und sahen ängstlich zu uns herüber wie Tiere, die einen Sturm wittern.
    »Woher kennen Sie sich so gut mit Banktresoren aus?«, fragte ich.
    Ich hatte vergessen, wie befriedigend es sein konnte, eine Frau zum Lachen zu bringen. Verblüfftes Innehalten … Aufblitzen von Zahnfleisch, erschreckend rot … jäh die weiße Hand vorm Mund.
    »Ach, ich habe mal für eine Bank gearbeitet«, erklärte sie. »Früher.«
    Sie wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Breitete das feuchte Taschentuch auf ihrem Schoß aus.
    »Hören Sie, Henry, ich habe Alonzos Festplatte.«
    Ich starrte sie an.
    »Wie …?«
    »Na ja«, zwitscherte sie, »erst mal habe ich sie aus dem Laptop ausgebaut.«
    »Nein, ich meine: Wann ?«
    »Bevor die Polizei gekommen ist.«
    Drei, vier Minuten. Nicht mehr.
    »Ich habe immer einen Schraubenzieher in der Handtasche«, sagte sie. Als sei das eine Erklärung.
    »Die Festplatte ist ein Beweismittel«, sagte ich.
    »Nicht, wenn sie gelöscht ist.«
    »Aber was wollen wir mit ihr, wenn sie gelöscht ist?«
    »Ach, gelöscht heißt nicht gleich gelöscht . Wenn Sie mal mit Computern gearbeitet hätten, Henry, wüssten Sie das.«
    Mit viel Geduld erklärte sie mir, dass Informationen auf Festplatten nicht wirklich gelöscht, sondern nur als gelöscht markiert werden. Und solange sie nicht überschrieben werden, kann man die ursprünglichen Daten häufig retten.
    Clarissa Dale hatte Alonzos Festplatte mit nach Hause genom
men, an ihren Computer angeschlossen, sich die Dateistruktur angesehen und – fragen Sie mich nicht, wie – es am Ende geschafft, ein paar Word-Dateien und, wichtiger, die Reste von Alonzos Terminkalender wiederherzustellen.
    Sie öffnete den Eintrag für den zwölften Mai – Alonzos letzten Tag auf Erden – und fand drei Namen, die er an diesem Tag anrufen wollte.
    »Meinen«, sagte sie. »Ihren. Und  …«
    »Amory Swale.«
    Ihre Wangen röteten sich amüsiert, als ich ihr erzählte, dass ich Swales Namen unmittelbar über dem ihren in Alonzos Notizen gefunden hatte.
    »Okay«, sagte sie. »Sie haben die Nummer angerufen, und dann?«
    »Nichts. Kein Anschluss.«
    »Und Sie haben ihn nicht gegoogelt? Macht nichts, ich schon. Er hat eine Website. Swales Antiquariat oder so. Gestern Abend, kurz vorm Schlafengehen, habe ich ihm eine Mail geschickt, und, was soll ich sagen, heute früh hat er sich gemeldet.«
    »Was hat er

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