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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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gesagt?«
    »Er war sehr zugeknöpft. Wollte weder per Mail noch am Telefon irgendwas sagen und bat mich, ihn persönlich aufzusuchen.«
    »Wo lebt er?«
    »Nags Head, North Carolina.«
    Zwei-fünf-zwei , fiel mir wieder ein. Swales Vorwahl.
    »Fünf Stunden Fahrt, Henry. Nicht so viel Verkehr um diese Jahreszeit. Wenn wir morgen früh aufbrechen – sagen wir um sieben –, könnten wir zum Mittagessen da sein.«
    »Um sieben Uhr früh.«
    »Ja, genau, bevor der Berufsverkehr losgeht. Oder haben Sie schon etwas anderes vor?«
    Wenn schon sonst nichts, so doch immerhin Alonzos Papierkram. Konten mussten eröffnet, Rechnungen bezahlt, Termine wahrgenommen werden. Gott steh mir bei: ein Gedenkgottesdienst für Lily. Und zu allem Überfluss ein Detective der Washing
toner Polizei, der es mir garantiert nicht zugutehalten würde, wenn ich bei laufenden Ermittlungen aus der Stadt verschwand.
    Ein Berg von Verpflichtungen ragte vor mir auf … und auf der anderen Seite? Eine Frau, die mit mir eine Spritztour zu einem Urlaubsort machen wollte.
    »Sieben Uhr, abgemacht«, sagte ich.

 

    9
    » W er ist Kit?«, fragte Clarissa.
    Wir waren eine halbe Stunde südlich von Richmond, und sie hatte sich auf dem Beifahrersitz meines 95er Toyota Corolla breitgemacht. Sie saß über Bernard Styles' Kopie gebeugt, das Haar fiel ihr vors Gesicht und schirmte sie vollständig ab.
    »Kit«, sagte ich.
    »In der ersten Zeile«, sagte sie. » Er wäre nicht der erste Liebhaber, dem Kit so mitspielte, welcher doch Heiß und Kalt entbrannte in nur einem Atemzug und Beweise für den Teufel oder für unsern Heiland vorbrachte  …«
    »Oh, ja. Das ist Marlowe.«
    »Marlowe?«
    »Vermutlich.«
    » Christopher Marlowe?«
    »Richtig.«
    »Der Stückeschreiber.«
    »Genau der.«
    »Und der war mit Ralegh befreundet.«
    »So sieht es aus. Ralegh hat zu einem Marlowe-Gedicht eine scherzhafte Erwiderung geschrieben. Und irgendjemand hat Marlowe einmal beschuldigt, er unterweise ›Sir Walter Ralegh und andere im Atheismus‹.«
    »Andere? War damit die Schule gemeint?«
    »Das ist unklar. Der Ankläger steckte mit Raleghs Rivalen, dem Earl of Essex, unter einer Decke. Essex könnte also versucht
haben, gleich beiden Männern etwas anzuhängen. Es kann auch reine Erfindung gewesen sein.«
    »Oder sie haben sich wirklich gekannt. Und waren wirklich Atheisten.«
    »Vielleicht.«
    Alonzo hatte mit dem Wort vielleicht nicht viel anfangen können. Clarissa offenbar auch nicht, denn sie zog die Mundwinkel nach unten wie ein gescholtenes Kleinkind.
    »Okay«, sagte sie, »noch etwas. Wenn Ralegh wirklich diesen Brief geschrieben hat, wieso schreibt er dann seinen Namen nicht richtig? Ich meine: R-a-w-l-e-y . Und wo bleibt das i ?«
    Ich presste meine Faust an die Schläfe. »Sie machen sich über mich lustig, ja?«
    »Nein.«
    »Woher wollen Sie sich mit elisabethanischer Rechtschreibung auskennen?«
    »Hallo? Ich habe Betriebswirtschaft studiert.«
    »Okay«, sagte ich, »die englische Sprache war damals nicht standardisiert. Es gab keine offiziellen Wörterbücher. Es gab keine … keine kulturell tradierte Überzeugung, dass Wörter immer gleich geschrieben werden sollten. Also schrieben die Leute nach Gehör oder so, wie es ihnen sinnvoll erschien. Sogar für den Namen Shakespeare kursierten ungefähr sechzehn verschiedene Schreibungen, und so, wie er seinen Namen schrieb, schreiben wir ihn nicht.«
    »Und Ralegh?«
    »Schrieb seinen Namen so, sein Vater schrieb ihn anders, und sein Halbbruder wiederum anders. Und nicht mal konsequent gleich in jedem Dokument. Sie glauben gar nicht, wie viele Varianten es gibt. Wir wissen nur einigermaßen genau, wie der Name ausgesprochen wird.«
    »Okay, aber ich dachte immer, Ralegh würde mit i geschrieben. R-a-l-e-i-g-h … «
    »Daran ist seine Witwe schuld. Da sie ihn überlebt hat, konnte sie seinen Namen schreiben, wie es ihr passte. Erst vor kurzem hat die Wissenschaft sich darauf geeinigt, das i wieder rauszu
nehmen. Ich könnte Ihnen auch erklären, warum, aber das würde Stunden dauern. Außerdem würde ich lieber noch etwas von Ihnen wissen.«
    »Fragen Sie.«
    »Wenn Sie Betriebswirtschaft studiert haben, warum arbeiten Sie dann nicht in einem Betrieb ?«
    Ein Delta aus Fältchen erschien über ihrer Nasenwurzel.
    »Ihr Ton, Henry.«
    »Entschuldigung, aber Sie – Sie scheinen unendlich viel Zeit zu haben. Und über nicht unerhebliche Geldmengen zu verfügen. In welchem Fall nicht nur ich, sondern

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