Algebra der Nacht
Größe, ihm zum Anlass für Verdruss und humorige Bemerkungen werden kann. Und so richtet er den Blick auf die Stelle, wo das trübe, stinkende Wasser der Themse an die Spitze seines Jagdstiefels stößt.
»Wir sind das Neue Atlantis!«
Er spricht niemand Besonderen an, aber die Bemerkung richtet sich natürlich an Thomas Harriot, der in der Nähe steht, der Platos Schilderung von Atlantis im griechischen Original gelesen hat und der von manchen, auch dem Grafen, für Englands größten Naturphilosophen gehalten wird – andere freilich halten ihn für einen Abgesandten des Teufels.
Das Paradoxe daran ist: Höchstens zwei Dutzend seiner Landsleute würden Harriot überhaupt erkennen, wenn er ihnen auf der Straße begegnete. Seit dreiundvierzig Jahren, länger als es seinem Vater oder seiner Mutter vergönnt gewesen ist, wandelt er auf Gottes Erde, den Blicken der Öffentlichkeit weitgehend entzogen, und denkt in mancher trostlosen Stunde, er hätte ebenso gut in Virginia bleiben können.
Doch wie könnte er sich guten Gewissens beklagen? Er verfügt über ein eigenes Haus auf dem Anwesen des Grafen, eine kleine Schar eigener Dienstboten, ganz zu schweigen von hun
dert Pfund Salär im Jahr, und für all das verlangt man von ihm lediglich, dass er eine Schneise in die Geheimnisse der Natur schlagen soll.
Derweil häufen sich die Jahre auf sein Haupt, und die Geheimnisse in seinem Innern nehmen immer mehr von seiner Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch. Trauer ist seine zweite Haut geworden. Sie umhüllt ihn wie Asche. Wenigstens die Hälfte der Nacht verbringt er schlaflos, und die Tage sind schlimmer als die Nächte. Jederzeit kann er ohne Vorwarnung in Tränen ausbrechen – wie eine Frau, herzzerreißend –, und nicht immer lässt es sich verbergen. Vor zwei Wochen sprach er gerade mit dem Rattenmann über Verunreinigungen in seinen Zinngefäßen, als ihm plötzlich die Augen überliefen.
»Ist Ihnen nicht wohl, Master Harriot?«
Er rang sich ein Lächeln ab. Eine beschwichtigende Geste, die aber nur bewirkte, dass der Rattenmann einen Schritt zurückwich und den Blick auf seine Stiefel heftete.
»Entschuldigen Sie die Störung.«
Den Philosophen zufolge ist seine Pein ein Geschenk. Melancholie, schreibt Aristoteles, hebt den Menschen auf die Stufe des Göttlichen. »Dieser humor melancholicus «, schreibt Agrippa, »hat solche Macht, dass er bisweilen gewisse Dämonen in unseren Körper zieht, deren Tätigkeit Menschen in Ekstase geraten und viel Wunderbares reden lässt.« Ähnlich zeigt es Dürer in seinem großartigen Stich: die finstere Melancholia in der ganzen Wollust ihres trüben Sinns, aus der die Schöpfungsleiter nach oben strebt. Welten über Welten.
Aber bei Harriot ist Melancholie kein Kunstgriff, sondern angeboren. Eine Zirruswolke, so empfindet er es, die mit seinem ersten Atemzug in ihn eingedrungen ist. Als Acht- oder Neunjähriger hat seine Mutter ihn einmal zum Schlachter geschickt, Bratenfett holen. Eigentlich nichts Besonderes, nur dass der Schlachter bei seinem Anblick in unbändiges Gelächter ausbrach: so ein kleiner Junge, und schon so eine Jammermiene.
Selbst Ralegh pflegte ihn damit aufzuziehen.
»Vielleicht würde es Ihre Stimmung aufhellen, Thomas, trügen Sie nicht immerzu Schwarz. Denken Sie bitte daran, dass Sie nicht mehr in Oxford sind. Sie müssen nicht wie ein Mönch gekleidet gehen.«
Aber an diesen lange zurückliegenden Abenden in Sherborne weckte der Anblick der im Kerzenlicht aufscheinenden weißen Gesichter den Wiedertäufer in ihm.
»Himmel Herrgott«, gab er zurück. »Man sieht ja die Hand vor Augen nicht . Ist dieser Bühnenzauber wirklich notwendig? Müssen wir unsere Arbeit zu einer Posse machen?«
Wie zu erwarten, amüsierte Marlowe sich darüber am meisten.
»Sie glauben doch wohl nicht, wir seien die Einzigen, die dieser Vorwurf trifft. Die heilige Messe, Tom, was ist sie anderes als ein Spiel? Eine Hochzeit? Ein Vortrag? Was ist eine Krönungsfeier ? Möchten Sie wissen, warum ich Stücke schreibe? Weil ich weiß, dass wir stets und ständig Theater spielen. Nur in einer Arena, die sich selbst Theater nennt, können wir aus dem wirklichen Theater – unserem Leben – heraustreten und den Menschen in seiner ganzen Wahrheit sehen, Tom. Womit ich natürlich seine Tragödie meine.«
Eines schrecklich kalten Dezemberabends einige Jahre später lud Ralegh ihn zu einem Schauspiel ein. Genauer gesagt, schleppte ihn mit, denn Marlowe war
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