Algebra der Nacht
können.
»Und die Frau hieß Joanne Frobisher?«, fragte Clarissa.
Ich nickte.
»Wie groß mag die Wahrscheinlichkeit sein, dass es in Hyattsville zwei Joanne Frobishers gibt?«
»Beide mit Verbindung zu dem Toten? Nicht groß. Eher verschwindend gering.«
Clarissa schwang sich vom Bett.
»Und keiner hat die Frau gefragt, ob sie Alonzo gekannt hat? Oder wenigstens von ihm gehört hat?«
»Warum sollte man?«, sagte ich. »Es war eine gerichtliche Untersuchung, kein Prozess. Die Ereignisse waren aktenmäßig bereits erfasst. Alonzos Familie wollte die Angelegenheit nur zum Abschluss bringen.«
»Wenn also Lilys Kusine an diesem Abend am Fluss war …«
Ich presste die Knöchel an meine Schläfe. »Muss Lily sie dorthin geschickt haben.«
»Aber warum?«
»Weil man einen Augenzeugen brauchte.«
» Warum ?«
Ich musste die Antwort erst in meinem Kopf vor mich hin sagen, bevor ich mich traute, sie auszusprechen.
»Weil man nur so die Welt davon überzeugen konnte, dass Alonzo sich umgebracht hatte.«
Weil zu viel dafür sprach, dass er es nicht getan hatte. Er wäre nicht meilenweit von zu Hause weggefahren, um etwas zu tun, was er in der Nähe seiner Wohnung genauso gut hätte tun können.
Für die Wahl dieser Brücke mussten ganz spezielle Kriterien ausschlaggebend gewesen sein. Es galt einen Ort zu finden, dunkel und abgelegen … einen Ort, wo man niemals genau würde in Erfahrung bringen können, was geschehen war.
»Puh«, sagte Clarissa und blies zwei Wangen voll Luft aus. »Wenn Sie recht haben …«
»Wenn ich recht habe, war Lily Pentzler an einem Mordkomplott beteiligt.«
In der jetzt eintretenden Stille schien das Wort Mord förmlich in der Luft zwischen uns zu kreisen. So langsam, dass wir es von allen Seiten betrachten konnten.
Ich weiß . Das hatte ich zu Lily gesagt, als ich sie das letzte Mal lebendig gesehen hatte. Ich weiß …
Nein. Du weißt nichts.
Clarissa und ich sahen uns an. »Die Polizei?«, meinte sie schließlich.
Ich wühlte die Karte aus meiner Brieftasche. Tippte die Nummer ein.
»Hier spricht Detective August Acree. Zur Zeit kann ich Ihren Anruf nicht entgegennehmen …«
Also hinterließ ich eine vage Andeutung und eine Nummer und, nach längerem Nachdenken, als Schlusswort:
»Äh, danke.«
Dann saßen wir minutenlang schweigend da und lauschten dem Summen der Klimaanlage.
»Immer noch keine Nachricht?« fragte ich.
»Von wem?«
»Mr. Swale, dem Buchhändler.«
Zerstreut griff Clarissa nach ihrem Handy und sah sich den Nachrichteneingang an.
»Nichts.«
»Dann lassen Sie uns von hier verschwinden.«
»Wohin?«
Ganz egal, wohin , wollte ich sagen. Aber eigentlich schwebte mir ein ganz bestimmter Ort vor, die Fort Ralegh Historic Site.
Ungefähr dort hatten Thomas Harriot und die anderen Siedler vor über vierhundert Jahren die erste englische Siedlung errichtet. Nicht am Meer, sondern einige Meilen landeinwärts. Die Siedlung war natürlich längst verschwunden, und das Einzige, was dort an Thomas Harriot erinnerte, war ein Naturlehrpfad, der aus unerfindlichen Gründen als Thomas- Harlot -Pfad eingetragen ist.
»Oh«, sagte Clarissa, »das hört sich gut an.«
Dieser freche Kommentar ließ mich – außer Atem – einen
Schritt zurückfallen, was mir einen langen Blick auf ihre Alabasterbeine erlaubte. Ich brauchte fast hundert Meter, um sie wieder einzuholen.
»Ich nehme an, Sie waren verheiratet, Henry.«
»Ein-, zweimal. Oder so.«
»Woran ist es denn gescheitert?«
»Hm, an mir . Vermutlich. Müssen wir darüber reden?«
»Natürlich nicht.«
Man hörte nichts als das Geräusch unserer Schritte, gedämpft von einem Teppich aus Weihrauchkiefernadeln.
»Also, woran hapert es bei Ihnen, Henry? Dass sie eine Frau nicht halten können?«
»Hm …«
»Sie können doch ganz nett sein, oder?«
»Na ja, es gibt auch nette Serienmörder …«
»Sie sehen gut aus.«
Großer Gott, ich wurde rot.
»Für mein Alter, meinen Sie.«
»Für jedes Alter,« sagte sie und schaute mir in die Augen. »Man könnte Sie für einen guten Fang halten, Henry.«
»Na ja, wenn mich eine gefangen hat, dann hat sie mich immer wieder von der Angel gelassen. Das ging meist ziemlich schnell.«
»Was war dann das Problem?«
»Wir sollen also tatsächlich darüber reden.«
»Nur wenn Sie wollen.«
Ich hob ein Stöckchen auf und schlug damit nach einer Roten Maulbeere.
»Das Problem war nie, wer ich war«, sagte ich. »Sondern wer ich nicht war.«
»Und
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