Algebra der Nacht
aufgeschlossener war als Ihrer.«
»Okay. Ich unternehme soeben eine heldenhafte, kurz gesagt eine mannhafte und mutige Anstrengung, meinen verschlossenen Geist zu öffnen, okay? Um einen Millimeter.«
Sie beäugte mich mit Augen wie Münzschlitze.
»Machen Sie schon«, ächzte ich. »Lange kann ich das nicht halten.«
Und so geschah es, hier auf dem Bürgersteig des Virginia Dare Trail, drei Blocks vom Pelican Arms und keine zwei Blocks vom hiesigen Hooters entfernt, dass Clarissa Dale mir von dem Mann erzählte, mit dessen Besuch praktisch jede Nacht zu rechnen war.
Auch wo er weilte, herrschte Nacht. Spätabends im September, obwohl sie nicht sagen konnte, woher sie wusste, dass es September war. Er trug einen schwarzen Wollmantel und einen steifen
schwarzen Hut mit abgerundeten Kanten, der große Ähnlichkeit mit einem Birett hatte. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, wodurch sein Gesicht, das bleich war wie ein Fisch, grimmig und maskenhaft, umso auffälliger hervortrat.
»Ein Priester?«, fragte ich.
»Eher nicht«, sagte sie. »Er schlägt keine Kreuze, trägt kein Kruzifix um den Hals. Macht keine Kniebeugen.«
»Was genau macht er dann? In Ihrem Traum?«
»Er hat eine Handvoll Steine. Lapislazuli, nehme ich an. Die wirft er in einen Kupfertiegel. Und unter dem Tiegel brennt ein Feuer. Und die ganze Zeit spricht er. Immer dieselben vier Wörter, immer wieder.«
»Welche denn?«
» Ex nihilo nihil fit .«
Sie verstummte – vielleicht verblüfft darüber, wie sich das in ihrer Stimme anhörte.
»Und jetzt kommt's«, fuhr sie fort. »Ich kann ja kein Wort Latein. Es war Alonzo, der mir übersetzt hat, was das bedeutet.«
» Von nichts kommt nichts. «
»Richtig.«
»Und mehr sagt der Mann nicht.«
»Doch. Wenn er fertig ist, wirft er den Kopf nach hinten und – naja, brüllt los. Diesmal auf Englisch. Jedenfalls nehme ich an, dass es Englisch ist.«
»Was brüllt er?«
» Lang lebe die Schule der Nacht! «
Zu meiner großen Erleichterung sagte sie es einfach nur und schrie nicht. Aber wie sie die Bewegung nachahmte, wie ihr Hals mit einem Ruck nach hinten wegknickte, als habe ihr jemand eine Garrotte darum geschlungen – es war nicht in Worte zu fassen.
»Und Sie hatten diesen Namen vorher noch nie gehört?« fragte ich.
»Niemals. Und jetzt höre ich ihn ständig.«
Wir gingen weiter, ohne uns dessen so recht bewusst zu sein. So dicht nebeneinander, dass unsere Ellbogen sich streiften.
»Als Sie sagten, Sie hätten die Schule der Nacht gesehen «, sagte ich, »dann haben Sie also das gemeint.«
Sie nickte.
»Sonst haben Sie niemanden gesehen?«
»Schön wär's«, antwortete sie und verzog die Lippen.
»Okay, eine Frage noch. Würden Sie sein Gesicht wiedererkennen? Wenn er sich noch einmal zeigen würde?«
»Ich sag Ihnen was, Henry. Wenn ein Mann seit über einem Jahr jede Woche zu Ihnen ins Schlafzimmer kommt, wissen Sie bald sehr genau, wie er aussieht.«
Clarissas Laptop war neuer und schneller als meiner, also stellten wir ihn auf die karierte Steppdecke des Motelbetts; ich tippte ein paar Wörter in den Google-Fleischwolf, und sogleich erschien ein Bild.
»War es der ?«, fragte ich und drehte den Bildschirm zu ihr hin.
Der abgebildete Mann war klein und hatte vage an einen Affen erinnernde Züge, der Kopf unverhältnismäßig groß, die Miene argwöhnisch. Er trug die übliche weiße Halskrause, hielt eine Schreibfeder in der Hand und war von einem lateinischen Spruchband umringelt. Si malum, meum peccatum … si bonum, Dei donum …
Bei seinem Anblick musste Clarissa laut lachen. »Ist das Ihr Ernst?«
»Und ob.«
»Der sieht ja aus wie ein Kuscheltier.«
»Sagen Sie nur, ob das Ihr Mann ist.«
»Absolut nicht.«
Sie sah mich an.
»Das soll dann wohl Thomas Harriot sein«, sagte sie.
»Nein«, sagte ich und drehte den Bildschirm wieder zu mir um. »Obwohl man es lange Zeit angenommen hat. Egal. Was ist mit dem hier?«
»Huh. Wow.«
Sie umkreiste das Bild mit ihrem Finger. Schob ihr Gesicht immer näher an den Bildschirm heran. Wiegte sinnend das Haupt.
»Also der Bart«, sagte sie. »Der kommt ungefähr hin. Aber die Stirn , die fällt zu sehr ab. Ich glaube nicht, dass …« Sie nahm wieder Abstand und sah es sich noch einmal gründlich an.
»Nein«, sagte sie. »Das ist er nicht.«
Unsere Blicken trafen sich. Sie holte tief Luft, und ein leuchtendes Rosa floss ihr über die Wangen.
»Gut«, sagte ich schließlich. »Das ist nämlich
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