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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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wer waren Sie nicht ?« Etwas Freches lag in ihrem Ton. Aber als ich in ihre Augen sah, die die Farbe von Zartbitterschokolade hatten, war ich verloren. Für ein oder zwei Sekunden.
    »Oh, Sie wissen schon. Ein Akademiker mit glänzender – mit alles überstrahlender sicherer Zukunft. Der war ich nicht. Zumindest nach einer Weile nicht mehr. Und ein Künstler war ich auch nicht, wie sich herausstellte.«
    »Nicht einmal mit der Liebe einer treusorgenden Frau?«
    Ich überlegte, was diese Frage implizierte. »Ehrlich gesagt, nein. Das war die Lehre, die ich aus meiner zweiten Ehe gezogen hab.«
    »Na egal. Aber ich wette, Sie waren ein guter Lehrer.«
    »Das ist Definitionssache.«
    »Versuchen Sie es.«
    »Hmm … Ich habe nie eine Unterrichtsstunde versäumt.«
    »Gut.«
    »Ich habe nie mit einer meiner Studentinnen geschlafen.«
    »Noch nicht.«
    Unvermittelt traf mich die Vision einer Clarissa Dale, die mit wildem Haar und Himbeerlippen in einem schottisch karierten Plisseerock den Kopf in mein Büro steckte:
    » Professor Cavendish?«
    Der Effekt war so erotisch und unwahrscheinlich, dass ich lachen musste.
    Eine Minute später lachte ich immer noch.
    »Sie kennen sich also aus«, sagte sie.
    »Wie bitte?«
    »Sie kennen den Weg zum Glück.«
    »Ja, genau«, sagte ich. »Ich kenne die Abkürzung.«
    Nun hätte ich Clarissa nach ihrer Geschichte fragen können, war mir aber nicht sicher, ob ich sie wirklich wissen wollte. Oder vielmehr, mir war nicht klar, ob Wissen besser wäre als Nichtwissen.
    Wir gingen weiter. Allmählich senkte sich der Weg, die Räume zwischen den Zedern und Eichen wurden heller und weiter, und plötzlich waren gar keine Bäume mehr da, und wir standen auf einem Streifen Sand und sahen auf eine graue Fläche brodelnden Wassers hinaus.
    Der Roanoke Sound.
    Ich war als Kind schon mal hier gewesen, so stürmisch hatte ich es aber nicht in Erinnerung. Vom Wind gedroschen, gekräuselt und aufgeworfen. Maximal nur einige Fuß tief, aber das konnten nur Einheimische wissen. Ein Außenstehender … war Thomas Harriot nicht genau hier auf Grund gelaufen?
    »Harriot hat nie geheiratet«, sagte ich.
    »Na ja«, sagte Clarissa. »Dass er nicht geheiratet hat, bedeutet noch lange nicht, dass er nicht irgendwen geliebt hat.«
    »Dafür gibt es keinen historischen Beleg.«
    »Na und, Sie haben doch gesagt, sein Geburtsdatum sei auch nicht belegt. Trotzdem wurde er geboren.«
    Wir standen lange dort, ein paar Meter Abstand zwischen uns. Der Wind wehte kräftig von Süden, zwei Möwen wehten vorbei und warfen ihre Schreie über die Schulter.
    »Eins habe ich Ihnen noch nicht gesagt«, sagte Clarissa.
    »Nämlich?«
    »Dieser Mann, wer immer es ist …«
    »Der in Ihrem Kopf.«
    »In meinen Visionen , nicht in meinem Kopf. Ich versuche es so auszudrücken, dass ich mich nicht noch verrückter anhöre, als ich mich für Sie ohnehin schon anhören muss.«
    »Weiter, machen Sie schon«, sagte ich.
    »Er leidet Schmerzen , furchtbare, unvorstellbare Schmerzen. Das sagt sein Gesicht, sein Körper. Er besteht nur noch aus Schmerz.«
    »Das heißt …« Ich hielt es für besser, sie nicht anzusehen. »Er sucht nach Heilung für sich selbst, geht es darum? Das mit den Steinen …«
    »Ich weiß es nicht.«
    Sie hob einen Kiefernzapfen auf. Schleuderte ihn ins Wasser.
    »Wie ist Thomas Harriot gestorben?«, fragte sie.
    »An Krebs. Glauben Sie mir, das wäre Ihnen aufgefallen. Angefangen hat es an seiner Nase und sich dann auf seinen Mund ausgeweitet. Er war ziemlich entstellt, als er starb.«
    Gerechte Strafe, hatte ich früher gedacht (als ich noch an ausgleichende Gerechtigkeit glaubte). Nicht dafür, dass er Tabak genossen hatte, sondern dafür, dass er ihn seinen Landsleuten aufgedrängt hatte. Harriot und Ralegh, die beiden haben England zu einer Nation von Rauchern gemacht.
    »Wie alt war er da?«, fragte Clarissa.
    »Sechzig. Oder einundsechzig.«
    »Und in welchem Jahr war das?«
    »Sechzehnhunderteinundzwanzig.«
    »Welcher Monat?«
    »Juli, glaube ich.«
    »Oh«, sagte sie. »In meinen Visionen ist es September. Vielleicht auch Oktober. Auf jeden Fall Herbst .«
    Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie aus heiterem Himmel:
    »Schön hier draußen.«
    »Mmm.«
    Es war höchstwahrscheinlich Zufall. Vielleicht hatten sich unsere Unterarme berührt. Ich drehte mich zu ihr um und wollte gerade etwas sagen, als hinter uns ein Geräusch von irgendetwas anderem zu hören war. Ein Knistern in den Rhododendren

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