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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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vermutlich auch nicht Harriot. Wir haben kein Bild von ihm, bei dem wir sicher wissen, dass er es ist. Das heißt, niemand weiß genau, wie er ausgesehen hat.«
    Sie stemmte sich mit einem leisen Ächzen vom Bett hoch, stand lange am Fenster und schaute hinaus. Vermutlich ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass ihr Haar im Gegenlicht noch dunkler brannte. Und ihre Arme im Licht aufleucheten.
    »Sagen Sie schon«, bat sie. »Habe ich bestanden?«
    »Den zweiten Test: ja.«
    »Was war der erste?«
    Ich klappte den Bildschirm zu. Schob den Laptop beiseite.
    » Die Schule der Nacht «, sagte ich. »Thomas Harriot hätte diesen Ausdruck niemals verwendet. Den hat Shakespeare geprägt, nicht er.«
    »Harriot hätte den Namen nicht übernehmen können?«
    »Wozu? Als Shakespeare sein Stück schrieb, war die Schule – falls es sie überhaupt je gegeben hat – praktisch am Ende. Und sie hätten sich ohnehin keinen Namen gegeben.«
    Sie drehte sich um. Starrte mich an.
    »Sie haben mich also dummes Zeug reden lassen, Henry.«
    »Nein. Ich habe Sie in den Kontext eingefügt.«
    Sie lehnte sich an den Fensterrahmen.
    »Sie können mich mal mit Ihrem Kontext«, sagte sie.
    Es war das erste (und letzte) Mal, dass ich sie fluchen hörte. Aber was mich noch mehr beeindruckte, war ihre plötzliche Müdigkeit. Ihr Körper machte schlapp, genau wie ein paar Tage zuvor im Stanton Park.
    »Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte sie. »Ich würde mich gern eine Weile hinlegen.«
    Ich hätte darauf hinweisen können, dass sie in meinem Zimmer war. Stattdessen schlenderte ich zur, wie das Motel sie mit einer gewissen Wehmut nannte, Ozeanterrasse. Die Luft war salzgesättigt, und auf einem Gartensessel nördlich von mir saß, in eine Decke gehüllt, eine Malteserhündin und blickte wie die Doyenne eines Sanatoriums aufs Meer hinaus. Eine gute Stunde lang saßen wir zwei dort in Betrachtung des Strandhafers vertieft. Und jedes Mal, wenn meine Aufmerksamkeit nachließ, holte Lily Pentzler mich wieder ein. Lily mit ihrem azurblauen Gesicht.
    Als ich zurückkam, war Clarissa noch wach und sah zum Deckenventilator hinauf.
    »Die Washington Post«, sagte ich und warf die Zeitung neben sie aufs Bett. »Mit Lilys Nachruf drin.«
    »Und was schreiben sie?«
    »Keine Ahnung. Ich hab's nicht gelesen.«
    Clarissa schnappte sich die Zeitung und schlug die letzte Seite des Lokalteils auf.
    »Hey, Moment mal«, sagte sie. »Haben Sie nicht behauptet, sie hätte keine Familie?«
    »Soweit ich weiß, hatte sie keine.«
    »Nach dem, was die hier schreiben, hatte sie eine Kusine. Joanne Frobisher. Lebt in Hyattsville, Maryland.«
    Hyattsville war von Lilys Wohnung aus in zwanzig Minuten zu erreichen. Aber was mich stutzen ließ, war nicht die Nähe.
    »Lesen Sie mir den Namen noch einmal vor«, sagte ich.
    »Joanne Frobisher. Kennen Sie sie?«
    »Ja«, sagte ich. »Den Namen kenne ich.«

 

    13
    M ehr als einmal habe ich mir in den Tagen seit Alonzos Tod die Frage gestellt: Was, wenn niemand ihn hat springen sehen?
    Sein Abschiedsbrief konnte fortgeweht worden sein. Uhr und Schuhe wären leichte Beute für Diebe gewesen. Der Mantel, der ein paar Tage später an Bear Island angespült wurde, bloß wieder ein Stück Treibgut, nicht der Rede wert.
    Ja, Alonzo Wax wäre völlig unbemerkt aus der Welt gegangen, hätte das Schicksal ihm nicht eine Zeugin gewährt.
    Eine sechsundvierzigjährige Frau aus Hyattsville, die sich bei ihrer spätnachmittäglichen Wanderung auf dem Gold Mine Loop verlaufen und, da ihr Handy kein Netz fand, auf den Fluss zugehalten hatte, in der Hoffnung, dort Hilfe zu finden.
    Wie sie später der Polizei berichtete, sah sie, als sie sich der Aussichtsplattform des Washington Aqueduct näherte, in der Dunkelheit einen khakifarbenen Regenmantel aufblitzen. Die Gestalt, die er umschloss, erblickte sie erst, als sie näher kam. Ohne nachzudenken, rannte sie auf den stumm dort oben Stehenden zu. Der just in dem Augenblick sprang.
    Erschüttert spähte sie in den reißenden Strom, in dem er verschwunden war. Doch der Abend war bewölkt, und sie hatte keine Taschenlampe bei sich. Wer immer der Mann war, was immer ihn bekümmert hatte, er war weg.
    Wochen später sagte sie bei der gerichtlichen Untersuchung des Todesfalls aus, dieses Erlebnis habe sie gelehrt, ihr Leben zu schätzen und sich keiner Person oder Sache mehr sicher zu sein.
Ich weiß noch, dass ich dachte, eine überzeugendere Zeugin hätte sich kein Drehbuchschreiber ausdenken

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