Algebra der Nacht
gesprochen hat.«
»Anzunehmen«, sagte er gelangweilt.
» Die Schule der Nacht ist wieder zusammengetreten . Hat er Ihnen das gesagt?«
»Anzunehmen.«
»Wir glauben, Alonzos Nachricht könnte etwas mit einem Dokument zu tun haben, das er erworben hat«, sagte Clarissa. »Ein Brief von Walter Ralegh an Thomas Harriot. Wir denken, er könnte wegen dieses Briefs getötet worden sein.«
»Und falls wir ihn nicht finden«, fügte ich hinzu, »sind vielleicht auch andere Menschen in Gefahr.«
»Komische Sache«, sagte Swale und pustete sacht auf seinen Finger. »Das mit der Gefahr, meine ich. Man erkennt sie nicht immer, wenn man sie vor Augen hat.« Ein Kamm grauer Zähne spross hervor. »Erinnern Sie sich, Mr. Cavendish, was passiert ist, als die erste Abordnung britischer Forscher die Indianerdörfer besucht hat? Sie finden die Geschichte in Harriots Buch. Wenige Tage nachdem sie ihre Besucher empfangen hatten, begannen die Indianer zu sterben. Scharenweise. Niemand konnte sich das erklären. Diese fremden bleichen Männer mit den eisernen Rückenpanzern. So hilflos, so hoffnungslos , was die simpelsten Überlebenstechniken betraf – und dennoch fähig zu einem solchen Gemetzel. Ohne auch nur einen Finger zu rühren …«
Er hob seinen eigenen ins Licht.
»Sie waren Überträger«, sagte ich.
»Des Empire-Virus, ja. Aber wer hätte das ahnen können? Und wer wüsste zu sagen, was wir gerade mit uns herumtragen?«
Clarissa erhob sich von der Couch. »Mr. Swale, mit Verlaub, bei fast jeder anderen Gelegenheit wäre es mir ein Vergnügen, mit
Ihnen über Geschichte und Viren zu plaudern, aber zwei Menschen sind gestorben, und es wäre angebracht, wenn ich das sagen darf, jetzt mit uns zusammenzuarbeiten. Vielleicht klären wir erst einmal, worum es eigentlich geht. Aus welchem Grund haben Sie uns herkommen lassen?«
Er schluckte eine oder zwei Tassen Luft. Starrte mit wildem Blick auf seine Uhr.
»Ach, herrjemine! Bin gleich wieder da.«
Er schleppte sich die Treppe hoch, stieß eine Tür auf und machte sie hinter sich zu.
»Puh«, sagte Clarissa und sank auf die Couch zurück. »Und Sie haben mich für verrückt gehalten.«
»Nein, verrückt ist hier nur eins. Die Bücher.«
Es waren so viele, dass sie in dem Haus am wenigsten ins Auge sprangen. Aber sie waren da, breiteten sich unter Staubschichten Stapel um Stapel auf dem Linoleumboden aus, strebten der rissigen Stuckdecke entgegen, erdrückten jedes furnierte Regal, dem auferlegt war, sie zu beherbergen.
Gebundene Bände, die meisten jedenfalls. Thriller älteren Datums, museumsreife Heimwerker-Handbücher, Romane im Reader's-Digest-Format, Tipps von Golfspielern, die längst das Zeitliche gesegnet hatten … mindestens fünf Exemplare von In den Schuhen des Fischers . Je höher ein Turm, desto obskurer seine Bausteine: ein Buch über den Bau von Flugzeugmodellen aus Balsa, Italienisch für Anfänger und Fortgeschrittene mit Lernkassette, das Jahrbuch der Gesellschaft der Rosenzüchter von Ontario aus dem Jahre 1918. Hier und da leuchtete ein Juwel aus dem Chaos heraus – eine Ausgabe von Jane Eyre zum Beispiel, illustriert mit zeitgenössischen Holzschnitten –, ein Ordnungsprinzip freilich war nirgends erkennbar. Nur klebrige Zwangsneurose.
Aber wenn Amory Swale seine Buchhüterpflichten auch nur lax wahrnahm, vollends schleifen ließ er sie nicht. Die Raumfeuchtigkeit, merkte ich, war niedrig, und die Temperatur bewegte sich um neunzehn Grad Celsius. Ideale Bedingungen für die Lagerung von Büchern. Sollte es welche geben, deren Lagerung lohnte.
Als wir Schritte hörten, falteten Clarissa und ich die Hände im Schoß und setzten eine gefasste Miene auf. Ich bewahrte die Fassung sogar dann noch, als klar wurde, dass der Mann, der jetzt die Treppe herunterkam, nicht Amory Swale war. Und auch sonst niemand, den ich je gesehen hatte.
Er war groß wie ein Gefrierschrank. Holzfällerhemd und mächtiger Vollbart mit malerischen grauen Einsprengseln. Statt der Taille eine unförmige Rundung, sein Gang leicht trotz schwerer Arbeitsstiefel mit Stahlkappen. Erst als er auf der untersten Stufe stehenblieb und den Bug seines Kinns auf uns richtete, erkannte ich … dass er es war. Diese Haltung starrer Unbeugsamkeit, die sich nicht verbergen ließ, egal, wie tief sie versteckt wurde.
»Ich wusste, dass ihr kommen würdet«, sagte Alonzo Wax.
15
» G roßer Gott«, flüsterte Clarissa.
Alonzo kam auf uns zugetrottet. Ein betreten
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