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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Clarissa fünfzehn Minuten später die Hand hob und mich aufzuhören bat.
    »Okay, warten Sie«, sagte sie. »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Thomas Harriot ist einer der großen Wissenschaftler seiner Zeit. Er korrespondiert mit Kepler, er beeinflusst Descartes, er sieht den Halleyschen Kometen fünfundsiebzig Jahre vor Halley. Er entdeckt irgendein Brechungsgesetz – wie hieß es noch? Das Smell-Gesetz?«
    » Snell- Gesetz.«
    »Entdeckt es jedenfalls vor Snell. Sieht Jupiter-Trabanten vor allen anderen. Bemerkt die Sonnenflecken vor allen anderen. Wird zum Wegbereiter von – ich komme kaum noch mit – Ballistik und Chiffriermethoden – sphärischer Geometrie –«
    »Und Algebra«, sagte ich. »Harriot haben wir auch das hier zu verdanken …«
    Ich zeichnete die zwei Symbole auf die letzte saubere Serviette.
     
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    »Oh, mein Gott«, flüsterte sie. »Das Krokodil verschlingt die größere Zahl. So hat Mrs. Clabault es uns im zweiten Schuljahr erklärt.«
    Sie fuhr langsam mit dem Finger über die Symbole. Blickte dann wieder zu mir auf.
    »Und was hat Harriot mit der Schule der Nacht zu tun?«
    »Na ja«, sagte ich, »zunächst einmal stand er auf Raleghs Lohnliste.«
    »Was musste er dafür tun?«
    »In erster Linie mit ihm herumhängen. Nein, das ist nicht fair. Er hat Ralegh in Navigation unterrichtet, er hat Raleghs Geschäfte organisiert. Seine Güter vermessen. Loyal bis zum Ende, selbst dann noch, als Northumberland ihn zu sich gerufen hat.«
    »Und Northumberland war …?«
    »Henry Percy, der Graf Hexenmeister. Auch ein Freund von Ralegh, ein angesehenes Mitglied der Schule. Unverschämt reich. Er hat Harriot einhundert Pfund im Jahr gezahlt, nur dafür, dass er in Syon Park wohnt – und denkt.«
    »Mm«, sagte sie. »Kein Stundenplan, keine Verteidigung der Doktorarbeit. Netter Job.«
    Sie kippte ihren Stuhl nach hinten und schaukelte darauf vor und zurück.
    »Die eine Stelle da in dem Brief«, sagte sie. »Das mit dem schützenden Genius  …«
    »Der jeden Stern überstrahlt, ja. Wenn es tatsächlich eine Schule der Nacht gegeben hat, war Harriot ihr Kopf.«
    »Warum wissen wir dann nichts über ihn? Ich meine, er war doch der erste englische Wissenschaftler, der Amerika erforscht hat, oder? Das heißt, er war vor der Verlorenen Kolonie hier.«
    »Also«, sagte ich, »wenn Sie einen Schuldigen dafür suchen, dass Harriot unbekannt blieb, fangen Sie am besten bei Harriot selbst an. Er hat zu Lebzeiten so gut wie nichts veröffentlicht. Seine Aufzeichnungen waren bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts verschollen. Wir versuchen immer noch herauszufinden, was er wusste und zu welchem Zeitpunkt er was wusste.«
    Erst im vorigen Jahr, erzählte ich ihr, hatten Wissenschaftler ein datiertes Dokument entdeckt, das beweist, dass Harriot als erster Mensch überhaupt mit Hilfe eines Teleskops den Mond gezeichnet hat. Sechs Monate vor Galileo. Mare Crisium, Mare Tranquillitatis, Mare Fecunditatis … alles schon da. Die Mondkarten, die Harriot in den folgenden vier oder fünf Jahren anfertigte, blieben über Jahrzehnte unübertroffen.
    »Den Mond anzustarren.« Clarissa stützte ihr Kinn in die Hand. »So viele Jahre lang. Er muss ein Träumer gewesen sein.«
    Mit ihren schweren Lidern hatte sie selbst etwas von einer Träumerin.
    »Haben Sie eigentlich jemals Angst, Henry?«
    »Doch, sicher.«
    »Ich meine: grundlos.«
    »Hm, keine Ahnung.« Ich kratzte mich an der Wange. »Wahrscheinlich gibt es immer einen Grund. Man muss nur dahinterkommen, was es ist.«
    Sie sah mich an.
    »Und wenn es das ist, wovor Sie Angst haben?«, fragte sie.
    Vor dem Restaurant lagen die Wetterfronten miteinander im Streit. Eine Wand aus diesig-feuchter Luft … die Sonne blinzelte ab und zu hinter einer Wolke hervor … und mittendrin Clarissa, die zielstrebig voranschritt, den Blick auf ihre Sandalen geheftet, wie sie auf das Pflaster klatschten.
    »Wie sah er aus?«, fragte sie.
    »Sie meinen Harriot?«
    »Ja.«
    »Warum wollen Sie das wissen?«
    Sie sagte nichts. Sah nur auf ihre Füße.
    »Sie haben ihn gesehen«, meinte ich. »Ist es das?«
    Ein gereiztes Zucken. Ein Knistern ihrer Haare.
    »Hören Sie«, sagte ich, »ich weiß, ich war bis jetzt nicht sehr zugänglich. Für Ihre Visionen , oder wie Sie das nennen wollen.«
    »Alonzo hat das Kreuzungen genannt«, sagte sie leise.
    »Na, sehen Sie? Sie haben ihm davon erzählt, warum dann nicht auch mir?«
    »Weil sein Geist ein wenig

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