Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
Vom Netzwerk:
und Maulbeeren.
    Ich fuhr herum und sah etwas Weißes oder Grauweißes aufblitzen. Einen Ärmel vielleicht oder ein Hosenbein – oder auch gar nichts. Was immer es war, es verging wie ein Traum, aber ich kam mir vor wie einer dieser ersten Siedler aus England, mitten in diesem fremdartigen Gestrüpp, alle Sinne weit offen.
    Und dann ertönte ein Geräusch aus dem Hier und Jetzt. Clarissas Handy, das in ihrer Gesäßtasche piepte.
    »Es ist so weit«, sagte sie.
    »Amory Swale?«
    »Er will uns sehen. Sofort. Auf der Stelle. Er sagt«, sie sah mir in die Augen, »es sei ein dringender Notfall .«

 

    14
    A mory Swale lebte direkt am Ozean in einer Siedlung, die sich Tarheel Estates nannte. Der stolze Name konnte nicht über den Zustand dieser Holzhäuser hinwegtäuschen. Abblätternde Farbe, zerbrochene Fensterrahmen, durchhängende Wäscheleinen, Berge von angespültem Tang … sämtliche Parzellen in der vollen Blüte des Verfalls, der nirgends so üppig gedieh wie bei Nummer 7, die wohl dafür zu büßen hatte, dass sie dem Meer am nächsten lag. Von den Außenwänden hing die Teerpappe in meterlangen Streifen, die Treppe vor der Haustür war durch Betonblöcke ersetzt worden, und der Garten war eine Wühlkiste voller Zigarettenstummel, zertrampelter Muscheln und verkohlter Zypressensetzlinge.
    Auf den ersten Blick wirkte das Haus wie seit langem verlassen, wenn nicht das frisch gemalte Schild am Giebel gewesen wäre. Bunte Buchstaben auf weißem Grund: SWALE ANTIQUARISCHE BÜCHER UND STICHE . Behutsam betraten wir die baufällige Veranda. Clarissa klopfte sacht an, und die Tür, von Fäulnis zerfressen, schwang auf wie der Eingang zu einem Traum.
    »Mr. Swale?«
    Es war schon nach sieben, die Sonne stand tief auf der anderen Seite des Sunds, und im Haus war es finster und feucht. Von irgendwo im Hintergrund war ein leises, hartnäckiges Geräusch zu hören, und dann trat ein Mann aus dem Dunkeln zu uns in den Halbschatten. Als Erstes sahen wir seine bloßen weißen Füße, dann schob sich der Rest ins Blickfeld.
    »Ah, hallo«, sagte er. Um seine Vokale rankte sich ein leichter Locust-Valley-Einschlag.
    Er trug einen taubenblauen Anzug, der seine beste Zeit noch nicht lange hinter sich hatte, und eine mit Schwänen bedruckte Krawatte; er öffnete die Lippen zu einem verlegenen, einladenden Lächeln. Aber der Gesamteindruck – die schmalen Schultern, die breiten fraulichen Hüften, die trübe, übergroße Brille und der panisch von seinem Schädel wegstrebende Kranz grauer Haare – war so seltsam, dass ich den Gruß nicht zu erwidern vermochte.
    »Sie müssen Mr. Swale sein«, sagte Clarissa.
    »Tee?«, antwortete er.
    Schon verschwand er im Dunkeln, erschien aber wenige Minuten später wieder mit einer angeschlagenen Keramikkanne, über die eine Warmhaltemütze gestülpt war, und einem Tablett mit Porzellantassen, außen schmutzig, innen jedoch engelweiß.
    »Bitte«, sagte er. »Nehmen Sie Platz.«
    Er wies auf eine altmodische Chintzcouch, deren Polster mit Jagdszenen geschmückt und stellenweise mit etwas, das aussah wie angetrocknete Katzenkotze, befleckt war. Eins der Rückenpolster war nach vorn gesunken, als sei es eingeschlummert. Da es keinen Couchtisch gab, stellte er uns die Tassen samt Untertassen auf den Schoß und schenkte ein.
    »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Ich finde ja immer, es ist die beste Jahreszeit für einen Besuch hier unten. Dann haben sich die elenden Touristen verzogen. Oh, ich nehme an, Sie sind ebenfalls Touristen, aber keine richtigen. Nein, ich betrachte Sie als Freunde, falls das nicht anmaßend ist. Zucker, Miss Dale? Sie lassen mich zuerst probieren, ja? Vorige Woche habe ich einer Freundin versehentlich koscheres Salz gegeben. Sie wird nie wieder Lapsang Souchong trinken.«
    Ein bitterer Teergeruch stieg von unseren Schößen auf. Ich nahm rasch einen Schluck und stellte die Tasse auf den Boden.
    »Mr. Swale, verzeihen Sie, aber Sie haben etwas von einem dringenden Notfall gesagt.«
    »Ja, darum handelt es sich wohl.«
    »Könnten Sie das vielleicht erklären? Da Sie sich gerade nicht direkt in Gefahr zu befinden scheinen?«
    Er saugte an seinen Lippen. Seine Augen flackerten hinter den Brillengläsern. »Ich bin mir nicht sicher, ob das … schon …«
    »Mr. Swale.« Clarissa reckte sich ihm entgegen. »Ich versichere Ihnen. Wir sind vertrauenswürdige Leute. Wir drei haben etwas gemeinsam. Wir sind die letzten, mit denen Alonzo Wax vor seinem Tod

Weitere Kostenlose Bücher