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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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zusammengepresster Mund schimmerte durch das Bartgestrüpp.
    »Henry«, sagte er.
    Die Entfernung zwischen uns schmolz zusammen, und noch ehe ich begriff, was ich da tat, lag meine Hand auf seinem Brustkorb – ich spürte den Ryhthmus seines Herzschlags zwischen den Fingern – und stieß ihn zu Boden.
    Er schlug der Länge nach hin, die Glieder wie Schutt über das schmutzige Linoleum verstreut, die Zunge hervorgeschoben wie der Klöppel einer Glocke.
    Ich bedachte ihn mit einem langen Blick. Und dann ging ich hinaus.
    Blieb aber draußen bald stehen. Hinter Amory Swales Haus, wo ein kleiner Tafelberg aus zusammengebackenem Sand lag, gesprenkelt mit Bierflaschen und Zigarettenkippen, einem leeren Kanister Kraftstoffzusatz und den Resten eines Basketballkorbs. Ein altes Parkverbotsschild flatterte an einem ausgezehrten Stück Maschendrahtzaun. Es war inzwischen Abend geworden, der Übergang zur Nacht kündigte sich gerade an. Und durch die zitternde Gestalt des Pampasgrases blitzte der Ozean schuppig-silbern.
    Sogar im dämpfenden Sand war sein Schritt unverwechselbar.
    »Henry.«
    »Verschwinde.«
    »Hab ich ja gemacht.«
    Und als ich mich umwandte, stand er mit offenen Armen da.
    »Nein«, sagte ich. »Das ist nicht genug, Alonzo. Das reicht einfach nicht. Du könntest dich bis nächsten Dienstag über deine Handlungsweise auslassen und hättest nicht mal annähernd wiedergutgemacht, was du angerichtet hast.«
    »Also wurde ich betrauert?« Er bohrte seine Schuhe tiefer in den Sand. »Gott, ich hatte es gehofft , aber …«
    Und dann hob er den Blick, gerade als ich abermals auf ihn losging. Ich schlug seine Hand weg, beugte mich dicht zu ihm hinüber und stieß die beiden Worte aus, die mir im Hirn brannten.
    »Leck … mich.«
    Alonzo taumelte rückwärts und fand wieder Halt an einer umgestürzten Mülltonne.
    »Henry«, sagte er. »Da du mich wie kein Zweiter kennst, sag: Hätte ich mir die vielen Umstände gemacht, bloß um dich an der Nase herumzuführen?«
    »Um mich geht es dabei doch zu allerletzt. Wenn ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen darf, da wäre deine Familie. Du hast, glaube ich, Eltern, du hast eine Schwester, weißt du noch? Ganz zu schweigen von Lily …«
    »Ich weiß«, sagte er. »Das mit Lily weiß ich.«
    »Dann weißt du ja, was ihr Lohn war. Für die jahrelangen Dienste, die sie dir geleistet hat.«
    »Henry, du glaubst doch wohl nicht ernsthaft –«
    »Nein, sag du mir, was ich glauben soll. Noch vor einer Stunde warst du tot. Noch vor zwei Tagen war Lily am Leben. Sag du mir, was ich denken soll.«
    »Ich hätte mir lieber den rechten Arm abgehackt, als Lily Schaden zuzufügen. Oder zuzulassen, dass ihr Schaden zugefügt wird. Das weißt du.«
    »Und trotzdem bist du weggerannt«, sagte ich und riss mich von ihm los. »Und hast ihr dein Chaos aufgehalst.«
    Als ich mich wieder umdrehte, saß er auf der elenden Mülltonne, den Kopf leicht zur Seite gekippt, und zog mit seinen seltsam kleinen Füßen Parabeln in den Sand.
    »Lily war sich über die Konsequenzen im Klaren«, sagte er.
    »Oh, sicher.«
    »Henry, ich hatte sie ins Vertrauen gezogen. Von Anfang an.«
    »Also hat sie für dich gelogen.«
    »Natürlich.«
    »Und ihre Cousine hat ebenfalls für dich gelogen.«
    »Joanna? Na ja, erstens hat die Zeitung das falsch wiedergegeben, sie ist eine Stief cousine. Sie und Lily sind sich schon seit, ich weiß nicht, Ewigkeiten fremd gewesen. Joanna brauchte Geld für eine Schönheitsoperation, ihre sonstigen Quellen, inklusive des Ex-Mannes, waren versiegt, also … hat sie Lily angerufen.«
    »Und Lily hat ihr gesagt, sie könne das Geld haben, wenn sie vorgibt, etwas gesehen zu haben, was niemals passiert ist.«
    »So in etwa.«
    »Und wo ist sie jetzt, diese Stiefcousine?«
    »In Cinque Terre. Mit ihrem neuen Hals. Ich hoffe, sie hat Freude daran, er hat mich eine Originalausgabe von Lylys Endymion gekostet.«
    Da musste ich an Alonzos Büchertresor denken, der jetzt ratzekahl leer war: kein John Lyly, kein John Donne, kein John Stow und überhaupt gar nichts mehr.
    »Deine Bücher«, sagte ich schwach.
    »Auch das weiß ich.«
    Hier hinter dem Haus standen keine Stühle, und so ließ ich mich auf die Erde plumpsen. Stützte meine Ellenbogen auf die Knie und fuhr mir mit gespreizten Fingern über den Schädel.
    »Warum um alles in der Welt hast du deinen Tod vorgetäuscht?« fragte ich.
    »Henry«, sagte er. »Wenn ich mir nicht selbst das Leben genommen hätte,

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