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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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hätte das jemand anders für mich getan.«
    Er stand auf und bedeutete mir, zum Haus zu gehen.
    »Komm. Du sollst alles erfahren.«
    Aber ich blieb einfach weiter im Sand sitzen und spürte, wie die Kälte mir an den Beinen heraufkroch. Und dachte mit schmerzender Verwunderung, ich könnte doch einfach gehen. Alles hinter mir lassen. Die Düne hinaufsteigen … mich den Strand hinabrollen lassen … direkt ins Meer hinein.
    Ich sollte dazu sagen, dass ich keinesfalls die Absicht hatte, mich umzubringen. (Solche Gedanken hatte ich schon vor langer Zeit ad acta gelegt.) Nein, ich war auf Flucht aus. Ich konnte mir sehr genau vorstellen, wie es sich anfühlte, von den Wellen gewiegt zu werden, die Spur des Monds auf dem Wasser zu sehen, das Blitzen meiner Haut wie die eines Delfins. Und doch war ich all dem zehn Minuten später noch keinen Schritt näher gekommen. Was hinderte mich denn?
    Die Antwort legte sich bereits wie ein Strick um mich. Ich hatte nicht mal gemerkt, dass sie nahte.
    »Henry!« Alonzos Stimme wie der Ruf eines Kornetts. »Wir haben nicht den ganzen Abend Zeit!«
     
    Zwei kahle 40-Watt-Lampen brannten nun in Amory Swales Haus, und durch die Lichtpfützen schritt Clarissa und hielt einen Besen vor sich wie ein Gewehr.
    »Eins ist mir schleierhaft«, sagte ich. »Wie zum Teufel kommst du darauf, dass Bernard Styles dich umbringen wollte?«
    »Wie komme ich darauf, dass am Morgen die Sonne aufgeht? Sie hat es schon einmal getan, das ist alles.«
    »Styles ist also ein Serienkiller? Bloß weil irgendwer einem armen Tropf in London sein Buch gestohlen hat?«
    » Einem ? Großer Gott, Amory, erzähl's ihm endlich.«
    Und da kam Amory. Er hatte sich eine Schürze mit der Aufschrift » BBQ Naked« umgebunden und trug einen Teller mit Mailänder Plätzchen, frisch einer Pepperidge-Farm-Tüte entsprungen.
    »Alonzo hat schon recht, wisst ihr. Cornelius Snowden war nicht der Einzige. Da war diese arme Bibliothekarin in Philadelphia …«
    »Maisie Hartzbrinck.«
    »Sie wurde unter einen Bus gestoßen. Und wo waren Ben Jonsons Werke , Maisies ganzer Stolz und Freude? Nirgends, das ist es ja. Und erst vorigen Herbst, der Experte für die metaphysischen Dichter – Universität von Southampton – wie hieß er noch, Alonzo?«
    »MacGrath.«
    »Hatte einen Aufsatz über Herbert geschrieben, der erwachsene Männer zum Weinen brachte. Er fiel vom Dach der Geisteswissenschaftlichen Fakultät. Sprang nicht, er fiel . Und wo war John Donnes Brief an Sir George More vom 7. März 1602? Derselbe, den MacGrath in seiner Kredenz unter Verschluss hatte?«
    Swale stellte den Teller mit Nachdruck auf den Boden.
    »Weg. Das war er.«
    »Und in allen Fällen«, sagte Alonzo und zog ein Plätzchen aus dem Haufen heraus, »hatte Bernard Styles angeboten, das besagte Buch oder Manuskript zu kaufen. Und in allen Fällen wurde er abgewiesen. In allen Fällen war er aber irgendwo in der Nähe, als die betreffende Person starb. Zusammen mit seinem Gorilla.«
    Bei diesen Worten erschien abermals Halldors Bild vor meinem geistigen Auge. In Habachtstellung an der Säule in der Haupthalle der Union Station. Ich ging ans Fenster, schob es so weit nach oben, wie es ging.
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Das kauf ich dir nicht ab. Das ist der Stoff, aus dem sonst Träume gemacht sind, das ist ein Bibliomärchen.«
    »Ein Märchen«, sagte Alonzo pikiert, »ist nicht dasselbe wie eine Lüge.«
    »Besten Dank, aber wenn du wirklich und wahrhaftig um dein Leben gefürchtet hast, warum hast du nicht die Polizei gerufen?«
    »Die Polizei?«, wiederholte er ungläubig. »Um ihnen was zu sagen? Dass ein gütiger, nicht mehr ganz junger britischer Herr vage Drohungen in meine Richtung aussendet? Damit wäre ich ja nicht mal am Pförtner vorbeigekommen.«
    Er schluckte das letzte Stück Plätzchen herunter und leckte sich einen nach dem anderen die Finger ab.
    »Henry, ich weiß, dass du mit Styles gesprochen hast.«
    »Und woher weißt du das?«
    »Lily hat es mir gesagt, wer sonst? Nein, erklär mir nichts, das ist nicht nötig. Ich werfe dir nicht vor, dass du sein Geld genommen hast – ich an deiner Stelle hätte es auch getan. Aber du musst verstehen, mit wem du es hier zu tun hast. Bernard Styles ist ein mieser Gelehrter, er ist ein Schmierfink und Betrüger, aber ge
nial darin, seine Spuren zu verwischen. Wenn er es geschafft hätte, mich zu töten, wäre niemand auch nur ein Jota klüger gewesen. Denk doch freundlicherweise mal daran, was

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