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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Lily passiert ist. Glaubst du ernsthaft, sie hat eine brennende Zigarette in einem Büchertresor fallen lassen? So unendlich penibel, wie sie noch beim kleinsten Detail war?« Er schüttelte den Kopf. »Nie im Leben.«
    »Unterstellungen mal beiseite«, sagte Clarissa und lehnte den Besen an die Treppe. »Rein rechtlich gesehen hat Styles einen Grund zur Klage gegen Sie, Alonzo. Sie haben sein Dokument gestohlen.«
    »Gut und gern die Hälfte der Bücher in seiner Sammlung sind gestohlen. Und jetzt, da er seine Flossen nach meinen ausgestreckt hat, können wir die Schätzung auf zwei Drittel erhöhen.«
    »Aber nicht den Ralegh-Brief«, sagte ich. » Den hat er auf …«
    »Nicht.« Alonzo hob die Hand. »Sag bloß nicht ›auf ehrliche und anständige Weise‹. Du meinst, er hat dich nicht damit unterhalten, wie er diese arme hinterwäldlerische Anwaltskanzlei übers Ohr gehauen hat? Ihnen vermutlich nur ein Hundertstel, ein Tausendstel dessen gezahlt hat, was der Brief wirklich wert ist? Und sich dabei die ganze Zeit wie ein Geizhals mit seinem Goldschatz gebrüstet? Wenn das für dich kein Diebstahl ist, Henry, wenn du nicht meinst, dass das gegen jede Ethik des Büchersammelns verstößt, dann verzichte ich auf meinen Platz in den Reihen der Menschheit.«
    »Und das rechtfertigt, dass du ihn bestiehlst?«
    »Mehr als das, es gibt dem ganzen Unternehmen eine sportliche Note.«
    Ich vergegenwärtigte mir Halldor. Und Lily. Schöner Sport.
    »Also wo ist es?«, sagte Clarissa. »Das kostbare Dokument.«
    »Direkt neben Henrys Ellenbogen.«
    Wie herbeigezaubert stand neben mir auf einmal ein Konsolentisch. Halbmondförmig, die Platte aus rosa Granit, beringt mit den Spuren der Übertöpfe längst eingegangener Pflanzen. Ein einziger Gegenstand lag darauf: ein Umschlag von Federal Express, elegant und zurückhaltend.
    The World on Time.
    Ich musste lächeln. Der entwendete Brief … unbemerkt vor aller Augen.
    Gerade mal einen halben Zentimeter dick, dieses Päckchen, aber je länger ich es betrachtete, desto mehr schien es zu wachsen.
    »Nur zu«, sagte Alonzo. »Du wirst dir ja heute wohl schon einmal die Hände gewaschen haben.«
    »Braucht er keine Handschuhe?«, sagte Clarissa flüsternd.
    »Handschuhe zerren zu sehr am Papier. Mach nur, Henry.«
    Ich zog die Klappe auf. Schob den Zeigefinger behutsam in die Öffnung, tastete damit sacht im Dunkeln, bis er auf etwas Festem, Wulstigen zu liegen kam. Einer Kante , die kaum merklich auf meine Berührung reagierte.
    Jetzt mit beiden Fingern zufassend, zog ich minimal.
    Es bewegte sich, zunächst widerstrebend, dann aber gehorsam. Eine Sekunde später hatte ich es abgelöst: ein Bogen Blisterfolie.
    »Mach weiter«, murmelte Alonzo.
    Meine Finger stießen jetzt energischer vor und zogen an dem Tesaband. Die Folie teilte sich und gab den Blick auf zwei Bogen mattes Kartonpapier in Archivqualität frei. Dann fielen auch die zur Seite, und ich spürte nichts an der Haut als das Ding selbst.
    Andere Männer hängen ihr Herz an Velin oder Pergament. Ich hingegen bin immer ein Liebhaber von Hadernpapier gewesen. Papier in seiner gröbsten und plebejischsten Form, aus Textilabfällen gefertigt. Ich mag alles daran: das Durchscheinende, Zerbrechliche, die fransigen Ränder, die Unebenheiten und die Farbschwankungen.
    Das Blatt in meinen Händen hatte auf einer Seite einen haarfeinen Saum und eine Kerbe in der oberen linken Ecke. Direkt darunter befand sich, in Umbra und Henna, ein Fleck in Form eines Feuerrads. Und die vielen Knicke erst! In gerade mal zollbreiten Abständen, denn Elisabethaner pflegten ihre Briefe zu dichten kleinen Bündeln zusammenzufallen wie die Zettelchen, die man einem Freund zusteckt, mit dem man im elften Schuljahr gerade eine endlose Stunde amerikanischer Geschichte absitzt.
    Als ich Alonzos tadelndes Hüsteln vernahm, ging ich mit dem
Brief zum Sofa und legte ihn auf das eine Kissen, das mir von der Katze verschont geblieben schien. Und dann versammelten wir uns alle darum, auf den Knien wie Druiden vor einem Haselstrauch, und zum ersten Mal sah ich nicht nur das Papier, sondern auch die darauf niedergeschriebenen Worte:
     
    In schweren Zeiten gewährt es große Freude, unsrer traulichen Schule zu gedencken, woselbst wir uns frohgemuth versammleten und Euer schützender Genius jeden Stern überstrahlte.
     
    Die Schule der Nacht , dachte ich. Ist wieder zusammengetreten.
    »Das ist es?« sagte Clarissa. »Dafür hat Styles Ihre ganze

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