Algebra der Nacht
Frage. Wie ich durch Experimente festgestellt habe, gibt es eine recht überzeugende Korrelation zwischen dem … dem Eintritts winkel – das heißt, dem Winkel, in dem das Licht auf den anderen Körper trifft – und dem Brechungswinkel – das heißt dem hervortretenden Strahl. Dividiert man nun den Sinus des ersten Winkels durch den Sinus des zweiten, so erhält man in dem Quotienten den Brechungsfaktor. Wenigstens meinen bisherigen Berechnungen zufolge.«
Sacht streichen ihre Finger über das Papier.
»Und all diese Zahlen, Sir, sind also Brechungsfaktoren?«
»Für unterschiedliche Körper, ja. Sie können sich das Lateinische sicher übersetzen. Da ist Glas und Kristall und Marmor. Rubin. Kupfererz. Sogar Schwefel! Beim Teufel da unten, so scheint es, geht es finster zu.«
Er gluckst leise. Befürchtet dann, er sei zu weit gegangen, und verstummt. Auch sie schweigt ziemlich lange, bevor sie wieder Mut fasst.
»Bitte, Sir. Warum kümmert es Sie, dies alles zu wissen?«
Die Frage trifft ihn in seiner Mitte, und er schnappt nach Luft.
»Warum ich … nun, ich würde das nicht vor jedem bekennen, aber ich schließe mich der Schule des Demokrit an, welche die Ansicht vertritt, dass Materie aus Einheiten besteht, welche man Atome nennt. Diese Einheiten, so glaubt man, sind, ähm, unsicht
bar und unteilbar zugleich. Und wegen ebendieser ihrer Natur viel zu klein, als dass man sie mit bloßem Auge sehen könnte. Darum erweist das Licht sich als ein unübertreffliches Geschenk für den menschlichen Geist, kann es uns doch die Struktur enthüllen, die unter der Oberfläche aller Dinge liegt. Je mehr Licht wir auf die zahlreichen Körper werfen, desto mehr enthüllen sie uns von ihrer inneren Natur und desto mehr erfahren wir über die Natur des …«
Seine Worte irritieren ihn selbst so, dass er innehält. Er verschränkt die Hände und sagt leise und entschieden:
»Nun, über die Natur des Lebens selbst. Falls sich das zu einem Sinn fügt.«
»Ja, Sir, das tut es. Ich halte ihn für äußerst groß und erhaben.«
Sie bereut ihre Worte sofort. Groß … erhaben … wie dürftig sie sich ausnehmen vor der Welt, die er ihr gerade aufgedeckt hat. Licht … Atome. Leben .
»Mein Ziel, Margaret – ich neige der festen Überzeugung zu, eines zu haben –, ist die Ausarbeitung einer mathematischen Beziehung zwischen diesen drei Variablen. Womit ich Dichte und molekulare Struktur und Brechungsfaktor meine. Und indem ich das tue – ach du meine Güte, ich schweife sicher zu weit ab. Ich muss mich entschuldigen, ich hatte so viel Freude an unserer kleinen Unterhaltung.«
»Nein, Sir, das Vergnügen ist ganz meinerseits. Die Ehre . Wirklich.«
»Oh.«
Er tritt einen Schritt zurück. Kratzt sich am Kinn.
»Von Ehre weiß ich nichts.«
Da versteht sie. Schmeichelei verursacht ihm Pein.
»Margaret.«
»Ja, Sir?«
»Würde es Sie interessieren, die genannte Arbeit einmal zu beobachten ? Aus der Nähe?«
»Beobachten, Sir?«
»Es gestaltet sich gerade so, dass ich morgen Nachmittag die Messung bei Bernstein vornehme. Wenn Sie wie eine Fliege an
der Wand sein wollten, würde mir das keine Ungelegenheiten bereiten. Oh, Grundgütiger, dieser Blick. Übertrete ich wieder eine Regel?«
»Ich befürchte es, Sir.«
Seine Lippen ziehen sich fest zusammen. Und dann kommt, ex nihilo , ein Einfall angeflogen.
»Ich könnte doch mit Mrs. Golliver sprechen! Mir will nicht einleuchten, dass sie viel einzuwenden haben sollte. Eine zehnminütige Unterbrechung Ihrer täglichen Runde, kein großes Unglück, nicht?«
Margaret weiß kaum, was sie sagen soll. Mrs. Golliver wird sich entrüsten. Sie wird ihre Entrüstung laut bekunden. Und doch, es ist der Herr, der solches vorträgt. Wer könnte es ihm verweigern?
»Sir, ich sollte … was immer Sie für angemessen halten …«
»Dann sagen wir drei Uhr am Nachmittag. In meinem Laboratorium.«
Und nun, da Koordinaten – ein Zeitpunkt, ein Ort – festgesetzt sind, regt sich in ihr noch größere Furcht. Und kann sie noch weniger dagegen tun. Die Wörter fließen aus ihr heraus wie ein Urteilsspruch.
»Wie Sie wünschen, Sir.«
Outer Banks, North Carolina
September 2009
21
U nd die frühere Schule? Die Schule, die er und ich vor so vielen Jahren am College gegründet hatten – was ist mit der?
Wir haben sie nie förmlich für geschlossen erklärt. Irgendwann ab dem späten Frühling unseres ersten Jahrs kamen wir immer seltener zusammen. Wir ließen uns zwar
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