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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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nichts anmerken, wussten aber, dass der Schulschwänzer im Grunde ich war, und ich grübelte nicht weniger darüber nach als Alonzo. Hätte ich irgendwo ein besseres Fleckchen finden können? Einen großzügigeren oder treueren Freund? Einen schöneren Lehrplan als Lyriklektüre, philosophische Diskussionen und den Rausch?
    Alonzo beanspruchte nie meine ganze Zeit und schirmte mich auch nicht von meinen anderen Freunden ab. Viele nahmen zwar an, er sei an Männern interessiert, doch er verstieg sich nie zu einem Annäherungsversuch. Und trotzdem blieb in unserer gemeinsamen Zeit etwas unerfüllt, das spürte ich wie einen Stachel. Andere wollten wissen, was Sache war. Ich erfand erst Gründe für mein Nichterscheinen und dann nicht einmal mehr die. Und Alonzo, dessen Selbstbild ich früher für unerschütterlich gehalten hatte, wurde zunehmend gereizt und nörgelig wie ein Lehrer, dessen Schüler hinter seinem Rücken bereits fortgelaufen sind.
    Im Herbst hatte ich endlich auch eine Freundin, eine Studentin der Politikwissenschaft aus Austin mit einem herrlichen Schmollmund, und Alonzo hatte Kenneth Martineau aufgetan, den Erben eines Vermögens, das aus Kartonagen stammte. Ihre Bezie
hung begann platonisch und ließ sich auch auf ihrem Höhepunkt beim besten Willen nicht als heiß bezeichnen, aber Kenneth hatte eine Schwäche für Schockeffekte und verkündete am Todestag seiner Mutter, sein Leben Alonzo widmen zu wollen. Seine Familienangehörigen stießen Drohungen und Schmähungen aus, und als die Trümmer alle weggeräumt waren, war Kenneth ebenfalls verschwunden. Nach La Jolla, wo er Muse und Gönner eines Objet-Trouvé-Konstruktivisten wurde.
    Alonzo wiederum warf das Handtuch, noch bevor das Semester herum war. Er gab sich aber Mühe, den Kontakt nie ganz abbrechen zu lassen. Und aus Schuldgefühlen und, ja, weil ich seine Zuneigung erwiderte, reagierte ich freundlich auf seine Bemühungen. Unsere Schule war zwar eingeschlafen, hatte aber nie endgültig ihre Tore geschlossen.
    Und nun waren wir wieder Kommilitonen und trafen uns jeden Morgen in Amory Swales Bruchbude. Amory selbst schickten wir mit diversen Aufträgen fort. An jenem ersten Morgen kaufte ich eine Thermoskanne Kaffee und eine Flasche Orangensaft, ein paar Cranberry-Muffins und anderthalb Dutzend Bagels. Alonzo machte sich darüber her, als sei er gerade einer Hungersnot entkommen.
    »Ich habe – entschuldige – ich habe mir schon überlegt, wie sich die Arbeit aufteilen ließe. Fürs erste …« Er leckte sich die letzten Krümel von den Lippen. »Ich denke, Amory und ich werden uns im Feld um alles kümmern: alte Quellen durchgehen, Fachleute konsultieren, Schauplätze in Augenschein nehmen … was immer nötig sein wird, um Harriots Routen zu rekonstruieren. Du und Clarissa, ihr …«
    »Ja?«
    Und da zeigte er mir das Rad.
    Das war mir beim ersten Blick auf die Karte entgangen. Ein Ring aus winzigen Buchstaben umgab die Markierungen und den Wal wie die Umlaufbahn eines Planeten. Mit einer Lupe gelesen, ergab sich, so Alonzo, im Uhrzeigersinn diese Sequenz:
     
    PsjAYStrooxeid DVegaLOkuxTmLikcy CUsSxGAzyrnrmu OrrLBAkchrlt Rdgarnoom ONOssfrtv QhiHeRbdall Zolgeanitz PeFpfhlogion LlLqaBwnb Adauncsleck QooTiatGlg KIkiWfleat HEstRqiaba OtzKCdMCpnfeffkuv
     
    »Das ist der Schlüssel«, sagte Alonzo. »Davon bin ich überzeugt. Wenn wir den knacken, können wir die Karte lesen.«
    Mein Kaffee war inzwischen so weit abgekühlt, dass ich ihn mit dem Finger umrühren konnte.
    »Nur zu deiner Information«, sagte ich. »Ich bin kein Kryptologe.«
    »Keine Sorge, Clarissa ist ein Ass am Computer. Und von dir möchte ich, dass du dir das Bezugssystem vornimmst. Schau nach Wendungen, Namen, Wörtern. Was immer dir zu dem Mann oder seiner Zeit einfällt, schnappst du dir wie einen Penny, der auf der Straße liegt.«
    Er tätschelte sich auf Falstaff'sche Art den Bauch und sagte mit einer Prise Bosheit im Ton:
    »Übrigens, Henry, dein Nachruf hat mir gefallen.«
    Ich legte meinen Muffin hin. Sah ihm mitten in die Augen.
    »Oh, Gott.«
    Denn welche Erinnerung an die Trauerfeier für Alonzo hatte sich mir eingebrannt? Lily Pentzler, die wie eine Irre in ihren Ärmel murmelte.
    »Mein Gott«, sagte ich. »Lily! Sie hat dir dein eigenes Begräbnis live übertragen.«
    »Und das war sehr anrührend, Henry. Du warst nicht sentimental, was ich hasse, wie du weißt. Oh, sag mal, was hältst du eigentlich von

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