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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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der Name ihr bekannt vorkam.
    »Also«, sagte sie. »Hassen Sie ihn?«
    »Wen?«
    »Walter Ralegh.«
    Ich trank einen Schluck Bier und schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an.
    »Warum sollte ich?«
    »Er hat Ihre Karriere zerstört.«
    »Damit hatte Ralegh doch nichts zu tun. Verstehen Sie, ich habe immer versucht, ihm gerecht zu werden.«
    »Und wer hat ihm Unrecht getan?«
    »Ja nun …« Ich knetete meinen Nacken. »Ralegh, mit ihm ist es so, dass der Lauf der Geschichte das Bild von ihm verzerrt hat. Denn zuerst und vor allem war er Dichter . Der in seiner Freizeit auch noch Cádiz eroberte, gegen die Armada kämpfte, den Arapaho Fluss hinuntersegelte und –«
    »Oh! Und seinen Mantel auf diese Pfütze warf! Damit Königin Elisabeth sich nicht die Schuhe schmutzig machte.«
    »Das kann auch Legende sein. Wenn man sich ansieht, was er alles gemacht hat, wer er war – Höfling und Soldat, Entdecker und Förderer –, und das alles nur als Beiwerk zu seiner wahren Berufung. Der Poesie nämlich. Sein Leben war ein episches Versgedicht, unvollendet, anders ergibt es keinen Sinn.«
    Seit Ewigkeiten hatte ich nicht mehr so lange am Stück über das Thema geredet.
    »Und was für ein Gedicht«, sagte Clarissa und sah mich über den Rand ihrer Flasche an, »ist Ihr Leben, Henry Cavendish?«
    »Prosa. Von Anfang bis Ende.«
    Ein leises seraphisches Lächeln. Sie stemmte sich vom Bett hoch. Rieb sich die Augen und sagte tonlos:
    »Helfen Sie mir auf die Sprünge. Wessen Zimmer ist das?«
    »Meins.«
    »Okay, gute Nacht.«
    »Es ist noch früh, oder?«
    »Nicht für mich. Wir sehen uns morgen früh.«
    Ich sah ihr nach. Und überlegte, was passiert wäre, wenn ich sie gebeten hätte zu bleiben.
     
    Das Bier war inzwischen ausgetrunken, deshalb fuhr ich noch mal los und kaufte in einem Brew Thru eine Literflasche Purple Moon Shiraz, den ich keine zehn Minuten später auf meinem Badezimmerboden verschüttete.
    Ich hatte aber noch genug übrig, um mir einen ordentlichen Schwips anzutrinken. Schaltete im Fernsehen die Turner Classic Movies ein und schaute mir aus den Augenwinkeln an, wie Jeanette MacDonald um Clark Gables Seele kämpfte. Sie war noch mittendrin, als ich einschlummerte.
    Stunden später wachte ich vom Hämmern in meinem Kopf auf. Das sich rasch an die Tür verlagerte, drei Meter weit weg.
    Es war Clarissa, in einem T-Shirt aus eigenen Beständen, turnhallengrau. Sie kam einen Schritt ins Zimmer herein. Ihre Augen glühten.
    »Es ist Harriot«, sagte sie.
    »Okay.«
    »Wirklich.«
    »In Ordnung.«
    »Und es ist jemand bei ihm. Ihr Name ist Margaret.«

Isleworth, England

    1603

    22
    D as ist die erste Überraschung: Das Laboratorium, in dem Master Thomas Harriot Aufklärung sucht, liegt fast völlig im Dunkeln.
    Anscheinend hat jemand die Fenster mit Pferdedecken verhängt. Margaret bleibt in der Tür stehen, späht in das Dunkel, macht einen Schatten aus, hört eine Stimme, scharf vor Ungeduld:
    »Kommen Sie. Kommen Sie.«
    Sie macht zwei Schritte in das Zimmer hinein und wartet, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben.
    »Sie dürfen sich ruhig setzen.«
    Langsam kann sie Gegenstände voneinander unterscheiden. Ein Arbeitstisch, etwa zwei Meter lang, mit Packpapier bedeckt. Auf dem Tisch ein poliertes dreieckiges Stück Bernstein. Und direkt darüber, an einer Kette aufgehängt, eine einzelne Lampe.
    Der Herr hält sich nicht mit Erklärungen auf. Nur hastige letzte Berechnungen zu den verschiedenen Entfernungen und Winkeln, die er misst.
    Schließlich legt er Kompass und Messstab nieder. Hält kurz inne. Dann schiebt er ein schwarzes, in der Mitte geschlitztes Holzbrett über das untere Ende der Lampe.
    Die Wirkung tritt sofort ein. Der Kegel des Lampenlichts wird zu einem scharfen Strahl gebündelt, der das Bernsteindreieck an seiner exponierten Flanke trifft. Und augenblicklich strebt an seiner Tangente ein geschwisterlicher Strahl davon, der den Bern
stein in zwei Teile schneidet und ihn auf wundersame Weise trotzdem ganz lässt.
    Keine Zeit, den Effekt zu bestaunen. Der Herr ergreift seinen Winkelmesser und macht sich an die Arbeit, murmelt die Namen der einzelnen Winkel ( ABH  … GBI  … FBM  … ) und schreibt die Zahlen schließlich nieder. Es geht langsam voran, da der Herr jede Messung grundsätzlich wiederholt, und Margaret verschwindet in den nächsten zehn Minuten aus seinem Bewusstsein, so dass sie zweimal fragen muss, bevor er sie hört.
    »Verzeihung, Sir. Meine

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