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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Clarissa?«
    »Ach …« Ich machte eine Handbewegung in Richtung Decke. »Sie ist ganz okay.«
    Alonzo brüllte vor Lachen. »Warum sagst du nicht gleich, sie ist eine Granate ?«
    »Ach, keine Ahnung. Glaubst du , dass die Schule der Nacht ihr jede Nacht erscheint?«
    »Wenn sie es doch träumt. Es kommt, glaub ich, von irgendwo außerhalb von ihr.«
    »Weil sie ein paar lateinische Wörter dahergeredet hat.«
    »Weil sie nicht möchte , dass die Visionen ihr kommen. Weil sie will, dass sie verschwinden.«
    »Das wollen Schizophrene auch.«
    Und noch während ich das sagte, fiel mir ein, wie ich Clarissa am Morgen zurückgelassen hatte. Im Aufenthaltsraum des Hotels, auf einem Stuhl mit Rohrgeflecht sitzend, über ein Croissant gebeugt, die Augen trüb, als sie zu mir aufsah.
    »Noch etwas«, sagte ich. »Warum ist sie überhaupt mit von der Partie? Eine junge Frau wie sie ist doch auf uns nicht angewiesen.«
    »Menschen gehen dahin, wo sie hin müssen«, sagte Alonzo und trank den letzten Tropfen Orangensaft direkt aus der Packung. »Meinst du nicht, Henry?«
     
    Gute Frage. War ich dort, wo ich sein sollte?
    Ich rechnete nun wirklich nicht damit, dass wir Gold finden würden. Tatsache aber war: Ich hatte innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden zweimal die Gelegenheit gehabt zu gehen und war nicht Thomas Harriots wegen geblieben. Daher beunruhigte mich der Anblick des rosa Mauerwerks des Pelican Arms, auf das ich gerade zuschritt.
    Clarissa saß auf der Veranda, die zum Meer hinausging, die Augen geschlossen, die Haare von der Brise verwuschelt. Sie trug ein kanariengelbes Strandkleid, ein grotesker Kontrast zu den traurigen grauen Kissen, und hatte sich die Zehennägel frisch lackiert: blutrot.
    »Wir haben einen Auftrag«, sagte ich.
    Und so setzte sie sich in den einzigen Sessel, warf ihr MacBook an und legte los. Sie verschwand zwar zwischendurch kurz auf der Toilette, streckte und reckte sich, trank einen Schluck Eistee, aber es dauerte nie länger als eine Minute, bis sie wieder vor ihren Entschlüsselungsprogrammen saß.
    Ich hatte derweil einen Schreibblock auf den Knien und notierte jeden Namen, der mir im Zusammenhang mit Harriot in den Sinn kam. Ralegh und Percy, Marlowe und Chapman und alle weiteren möglichen Mitglieder der Schule. Richard Hakluyt,
Harriots Geographielehrer. Thomas Allen, Harriots Mathematiklehrer. Und Kepler, Harriots Briefpartner. Und Galileo, Harriots Rivale. Und Bruno und Brahe und Roger Bacon. Und John Dee und George Ripley und Avicenna.
    Alle, mit denen Harriot befreundet war, und seine nicht weniger zahlreichen Feinde. Der Earl of Essex, Percys Schwager. Robert Cecil, wichtigster Berater sowohl Königin Elisabeths als auch König Jakobs. Antony à Wood, der Harriot beschuldigt hatte, »absonderliche Ansichten über die Heilige Schrift« zu hegen und das Alte Testament abzulehnen. Robert Parsons, der Jesuitenpater, der behauptet hatte, Harriot stifte junge Herren an, Moses und Jesus zu verhöhnen. Nicholas Jefferys, der behauptet hatte, Harriot habe »die Wiederauferstehung des Leibes« geleugnet. John Popham, der königliche Oberrichter, der Ralegh zum Tode verurteilt und gedrängt hatte, sich von dem »Teufel Harriot« loszusagen.
    Danach trug ich geographische Namen zusammen. Clifton, wo Harriots Vater – gesichert war es nicht – als Schmied gearbeitet hatte. Oxford und St. Mary Hall, wo Harriot sich mit siebzehn in die Matrikel eintrug. Sherborne, wo die Schule der Nacht vermutlich zusammenkam. Durham House, Raleghs Anwesen in London. Molana Abbey, Raleghs Anwesen in Irland. Verschiedene Stationen auf dem Weg nach Amerika: Plymouth und Puerto Rico, Hispaniola und Wococon.
    Namen über Namen, die einander ablösten und von denen doch keiner mehr Erfolg versprach als der vorherige. Widersinnigerweise tröstete es mich, dass Clarissa nicht besser vorankam. Bis jetzt hatte sie nur herausgefunden, dass die Buchstabenkette keine Reihe von Substitionsziffern und kein Algorithmus war. Aber welchen Namen sie auch in ihre Entschlüsselungsprogramme eingab, heraus kam immer nur: nichts.
    Wir machten keine Mittagspause und arbeiteten den ganzen Nachmittag hindurch. Um halb acht bestellten wir bei Little Caesars eine Schinken-Salami-Pepperoni-Pizza und als Beilage ein Sixpack Sierra Nevada. Clarissa saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem feuchten weißen Flauschteppich, schob die Pizzastü
cke in sich hinein und schielte ab und zu auf ihre Serviette, als überlege sie, woher

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