Algebra der Nacht
Arbeit …«
»Oh. Ja.«
Unsicher, wie sie sich benehmen soll, tritt sie einen Schritt zurück, knickst und geht dann schnurstracks zur Tür. Flink und gewandt , sagt sie sich. Die Füße heben …
Und genau wie bei ihrer ersten Begegnung, ruft Harriot ihr nach.
»Dann bis morgen.«
Am nächsten Tag kommt sie wieder. Und am übernächsten auch. Sie wartet stets vor der Tür, bis die Uhr dreimal schlägt. Dann tritt sie mit gesenktem Kopf ein.
»Ich bin gekommen, Sir. Wie Sie es wünschten.«
Und warum wünscht er es? Was will er von ihr? Soviel sie weiß, verlangt er von ihr nur, dass sie anwesend ist. Trotzdem hat er nichts von der Eitelkeit eines Schauspielers an sich. Er zappelt herum, brummelt etwas, kratzt sich, vergisst, wo er war, schimpft auf seinen Federkiel … benimmt sich kurzum wie jemand, der sein eigener Sklave ist. Umso überraschender, dass sich der Nebel um ihn eines Nachmittags lange genug lichtet und er sagen kann:
»Margaret, dürfte ich Sie damit behelligen, die Zahlen zu notieren?«
Anfangs scheut sie davor zurück. Sie hat wenig Übung darin, Zahlen zu schreiben, und behilft sich zunächst damit, seine Hand nachzuahmen, die scharfen Unterstriche unter seinen Dreien und Fünfen, die Schräge seiner Zweien, die baumelnden Ecken sei
ner Vieren. Sie macht sich die Handschrift so gründlich zu eigen, dass es ihre eigene wird, und schon bald gleitet der Federkiel mit schöner Leichtigkeit übers Papier. Nach und nach, Zeile für Zeile füllen sich die Tabellen des Herrn, und schon dieser kleine Beitrag, den sie zu der Arbeit leistet, versetzt sie in ungewöhnliche Erregung.
Sie bemerkt nicht, wie aus den zehn Minuten, die sie im Laboratorium verbringt, fünfzehn und zwanzig werden. Und wenn sie sich schließlich verabschiedet, schaut er sie jedes Mal so entgeistert an, als sei sie eine Variable, die er noch in seine Gleichung einfügen muss.
Eines Nachmittags stellt er eine große Kristallkugel auf den Tisch. Die Kugel eines Wahrsagers , denkt sie. Es sieht ja auch wie Geisterbeschwörung aus, so bedächtig, wie er vorgeht, so theatralisch, wie er innehält. Seine Hand zittert, als er das schwarze Holzbrett wieder unter die Lampe schiebt.
Abermals drängt der Lichtstrahl heran, aber mit einem Unterschied: Er trifft nicht bloß auf die Kugel, er lässt sie regelrecht bersten.
Das Licht zerspringt in einem Band von Farben. Indigo und Violett und Rot und Orange. Stechendes Gelb. Ein Grün, das sie beinah riechen kann. Die Sinne entflammen, und doch kann keiner allein oder aber alle zusammen es erfassen.
Benommen erhebt Margaret sich von ihrem Hocker, rechts von ihr hat sich etwas bewegt. Das Tintenfass … ist umgekippt … ein Fluss aus Galltinte kriecht auf das Blatt mit den Zahlen zu.
Der Herr reagiert noch vor ihr, reißt das Papier fort. Stößt in seiner Hast allerdings mit der Schulter an die Lampe, die in einem Sturm aus Glas auf den Tisch fällt. Im Nu steht der Tisch in Flammen.
Erschrocken greift Margaret nach Federkiel und Tintenfass, die Flammen lecken an ihren Fingern. Sie sieht den Herrn die Decke vom Fenster reißen und über den Tisch werfen. Aber die Flamme erhebt sich wieder, und mit verdoppelter Kraft, verschlingt die Wolle, als wäre sie Luft.
Von draußen ertönt das Geräusch rennender Füße. Mrs. Golli
ver kommt mit einem Eimer Wasser ins Zimmer gelaufen. Allein ihr Anblick könnte Margaret zum Lachen bringen, doch es ergießt sich bereits Wasser über den Tisch. Ein lautes Zischen … ein Seufzer … das Feuer hat sich in eine Rauchsäule verwandelt.
Triumphierend stellt die keuchende Mrs. Golliver den Eimer ab. Sagt mit sibyllinischem Ernst:
»Master Harriot, Sie können nicht behaupten, Sie seien nicht gewarnt worden.«
»Es war allein meine Schuld.«
»Einem bloßen Mädchen zu erlauben, in dieser Eigenschaft zu Diensten zu sein, geht wider die Natur und den Menschenverstand. Es stellt die natürliche Ordnung auf den Kopf.«
Margaret lauscht Mrs. Gollivers Gezeter und begreift plötzlich: Das ist der Anlass, auf den sie gewartet hat.
»Sie sehen es wohl ein, Sir: Das Mädchen wurde angestellt, um für uns zu arbeiten. Nicht, um uns Arbeit zu machen .«
»Ist das so?«
Gut möglich, dass er protestieren will. Doch es liegt kein Widerspruch in seiner Stimme, nur eine Nervosität, die langsam auf andere Teile seines Körper übergreift: auf Brauen, Finger, Füße.
Wie schwankend er wirkt angesichts von solch echter Festigkeit! Margaret
Weitere Kostenlose Bücher