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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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entgangen. So wenig wie ihm. Er schlägt die Hacken zusammen.
    »Und wie wir bereits festgestellt haben, sind die Gollivers um diese Stunde recht unempfindlich. Wir sollten also ungestört sein, würde ich meinen. Was weitere Feuer verhindern wird.«
    Er sucht ihr Einverständnis, das weiß sie nun. Sie weiß aber auch, dass Schlaf der einzige Luxus ist, den sie hat. Eine ganze Ewigkeit, so will es ihr scheinen, steht sie da in pechschwarzer Nacht.
    »Wie Sie wünschen, Sir.«

 

    23
    A m nächsten Abend steht sie auf der Schwelle, als es grad neun geschlagen hat.
    Auf den ersten Blick macht es keinen Unterschied, dass sie um diese Stunde zusammenkommen. Die Arbeit ist größtenteils dieselbe: umständliche Messungen, Reihe um Reihe ins Verzeichnis eingetragen. Der Raum ist nicht dunkler als vorher, nur die Schatten sind noch tiefer, und das Licht teilt sie noch schärfer.
    Etwas ist aber doch anders: Die Zahlen aufzuschreiben, was bei Tage für sie einen gewissen Zauber hatte, wird im Dunkeln zur Strafe. Ihre Hand schleppt sich über das Papier, die Zeichen verschwimmen vor ihren Augen. Sogar die Stimme des Meisters verflacht für Sekunden zu einem gleichförmigen Gesumm.
    Bemerkt er ihre Unaufmerksamkeit? Weiß er überhaupt, dass sie im Zimmer ist? Wohl wahr, es gibt Momente, da murmelt er nicht bloß vor sich hin, sondern spricht sie direkt an. Und gelegentlich macht er sich sogar die Mühe, ihr etwas zu erklären – wie man den Sinus und Cosinus berechnet etwa –, aber seine Sprache bleibt verklausuliert. Margarets Latein ist zwar gut, aber in Geometrie hat sie nur rudimentäre Kenntnisse. Sie weiß, was ein rechter Winkel, nicht aber, was eine Hypotenuse ist. Und Trigonometrie ist ihr so verständlich wie das Aramäische.
    »Sinus- und Cosinusfunktion sind deswegen so aufschlussreich, Margaret, weil sie nicht von der Größe des Dreiecks abhängig sind. Sie drücken lediglich die Beziehungen zwischen Winkeln aus …«
    »Ja, Sir.«
    Die Wörter prasseln auf sie ein, und sie löst sich darin in Luft auf. Und dann ruft er ihr das nächste Messergebnis zu, und ihre Hand kritzelt die Ziffern hin, und die Arbeit geht weiter.
    Angelus refractus … hdb per calculum … in aqua incidentia …
    Und wenn die Arbeit für die Nacht getan ist, ruht er sich mit dem Behagen des einfachen Landmanns aus. Holt seine Pfeife hervor, stopft sie mit Tabak, zündet sie an der Kerze an und saugt daran. Der Rauch zieht in zitternden Spiralen durchs Zimmer und bringt Margarets bereits brennende Augen zum Tränen.
    Irgendwann fasst sie Mut und verabschiedet sich. Er wendet den Kopf in ihre Richtung.
    »Gute Nacht also. Ich danke.«
    Sie geht nie, ohne noch einmal verstohlen zurückzublicken, aber er sitzt jedes Mal genau so da, wie sie ihn verlassen hat. Kein Anzeichen dafür, dass er ebenfalls zu Bett geht.
    Er kann schließlich auch so lange schlafen, wie es ihm gefällt. Margaret fällt in den meisten Nächten um eins ins Bett und ist vier Stunden später wieder auf den Beinen. Eine Woche lang tut die Furcht vor Entdeckung das Ihre, sie in Bewegung zu halten, aber als auf kurze Nächte immer öfter lange Tage folgen, hat sie Mühe, den Hahnenschrei zu hören. Eines Morgens muss Mrs. Golliver sie wecken.
    »Faules Ding!«
    Margaret hascht nach einem Nickerchen, wo sie kann; häufiger hascht der Schlaf nach ihr. Sie fegt gerade das Studierzimmer aus, da muss sie sich an die Wand lehnen, damit sie nicht zusammensackt. Über einen Eimer Wäsche gebeugt, stellt sie beim Aufschrecken fest, dass ihr Kopf auf dem Eimerrand ruht. Als sie das Bett macht, purzelt sie hinein, als sei es ein Teich.
    Margarets Verderben wartet auf sie an einem Freitagvormittag im April. Sie kommt mit einem Rock voller Eier vom Hühnerhof, da tun Sonne und Wind sich zusammen und werfen ihr einen blendenden Strahl ins Auge. Sie taumelt für einen Moment – wie ein erschöpfter Hahn – und stürzt der Länge nach zu Boden.
    Die Feuchtigkeit lässt sie zu sich kommen. Die Eier, unter ihrem Gewicht zerschlagen, dringen klebrig-kalt durch ihren Rock, es fröstelt sie. Sie dreht sich auf den Rücken … wartet, bis ihr das Blut in den Kopf steigt … und erblickt, als sie die Augen aufschlägt, die schemenhafte Erscheinung Mr. Gollivers.
    »Bist du krank, mein Kind?«
    Sie könnte es behaupten, doch dann wird womöglich nach einem Arzt geschickt. Oder sogar nach dem Verwalter.
    »Ich bitte um Entschuldigung, Sir. Ich habe, scheint's, das Gleichgewicht

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