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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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verloren.«
    »Das ist aber nicht das Bild, das sich mir darbietet. Das Bild, das sich mir darbietet, ist das eines Mädchens, das seine Pflichten versäumt.«
    Langsam, ruckweise rappelt sie sich auf. Betrachtet den merkwürdig beschämenden feuchten Fleck auf ihrem Rock.
    »Es soll nicht wieder geschehen, Sir.«
    »Nein. Das soll es nicht .«
    Er packt Margaret am Ärmel und schleift sie durch die Hintertür ins Haus. Und als sie an der Küche vorbeikommen, schließt sich ihnen Mrs. Golliver an, als hätte sie ein stummes Alarmsignal empfangen.
    Zum Tower , denkt Margaret in ihrer Benommenheit. Wir marschieren zum Tower .
    Der Herr tut, was er um diese Stunde immer tut. Er verfasst seine Korrespondenz.
    »Ja?«
    »Master, wir haben schlimme Neuigkeiten.«
    Es folgt die Anklage. Margaret ist gegen ihren Willen beeindruckt von der Litanei ihrer Verfehlungen: Sie sei schläfrig, achtlos bei der Hausarbeit, voreilig, saumselig, frech und liederlich. In diesem Übermaß ist es fast erheiternd, und wirklich, sie muss sich das Lachen verbeißen, als Mrs. Golliver, zur Höchstform aufgelaufen, ausruft:
    »Sie meint wohl, Eier wachsen auf Bäumen!«
    Die ganze Aufzählung ihres Sündenregisters hindurch bleiben Harriots Hände fest ineinander verschränkt. Schwankend ist ein
zig sein Blick, der von Golliver zu Golliver und vom Boden zur Decke wandert und schließlich mit vagem Unbehagen auf Margarets nach Schwefel stinkendem Rock zur Ruhe kommt.
    Im Zimmer wird es still. Und mit einer Stimme, kaum vernehmbar, sagt der Herr:
    »Mich dünkt, Sie haben den falschen Missetäter ergriffen.«
    »Sir?«
    »Wenn Margaret in der Tat nicht imstande ist, ihren Pflichten nachzukommen, dann deshalb, weil ich sie höchst eigennützig für meine Zwecke beansprucht habe.«
    Mr. Gollivers Mund schließt sich um das Wort, als wäre es ein Knorpel.
    » Zwecke?«
    »Experimente, ja, von höchst prekärer Art. Und von so großer Bedeutung für Krone und Kirche, dass sie nach der Tagesarbeit durchgeführt werden müssen. Um Verfälschungen auszuschließen.«
    Jetzt ist es an Mrs. Golliver, sich zu vergegenwärtigen, was das bedeutet.
    » In der Nacht ?«
    Margaret sinkt auf den nächsten Hocker. Schließt die Augen. Sie würde vollends entschweben, zöge die Stimme des Meisters sie nicht wieder auf die Erde zurück.
    »Ich bitte um Entschuldigung, Mrs. Golliver. Ich habe versäumt, Sie von meiner Entscheidung zu unterrichten.«
    »Entscheidung, Sir?«
    »Nach gründlicher Erwägung halte ich die Zeit für gekommen, einen Laboratoriumsassistenten anzustellen.«
    Margaret schiebt sich die Augenlider hoch – und sieht erstaunt, dass alle Augenpaare im Raum auf sie gerichtet sind. Noch immer hat sie nicht erfasst, was soeben geschehen ist, doch dann sagt Harriot:
    »Ich hoffe, Sie können sofort anfangen, Margaret. Nein, nicht sofort. Nehmen Sie sich bis zum Wochenende frei und erholen Sie sich. Ein oder zwei Nächte gründlich ausschlafen, mehr sollte als Kur nicht nötig sein. Es dürfen nicht noch mehr Un
fälle geschehen, deren Spuren Mrs. Golliver dann beseitigen muss.«
    Ein fürchterliches Schweigen folgt hierauf. Gebrochen vom Schrei der Alten:
    »Das wird nicht gehen!«
    »Darf nicht sein!«, ruft der Alte.
    »Es wird leider müssen«, sagt Harriot.
    »Aber wer wird Margarets Hausarbeit erledigen?«
    »Der Verwalter war so gut, sie uns zu schicken. Ich hege großes Vertrauen in seine Fähigkeit, ein neues Mädchen zu finden, das in jeder Hinsicht ebenso tüchtig ist.«
    Erst jetzt begreifen die Gollivers ganz. Sie haben einen neuen Herrn. Das erfordert, einen neuen Kurs einzuschlagen. In einem Ton, in dem vieles mitschwingt, sagt Mr. Golliver:
    »Ich bin mir gar nicht sicher, was der Earl hierzu sagen wird.«
    »Danke, dass Sie es mir ins Gedächtnis rücken, Golliver. Wenn die Erinnerung mich nicht trügt, bin ich morgen Nachmittag bei Seiner Gnaden bestellt, von ein bis drei Uhr. Da werde ich es ihm zur Kenntnis bringen. Ich bin überzeugt, dass er in dieser Sache gewonnen werden kann. Wir erbitten so wenig von ihm, nicht wahr, Golliver?«
    Harriot hält ihren Blicken noch einige Sekunden lang stand. Dann weist er mit bittendem Lächeln auf seine Korrespondenz.
    »Wenn Sie mich jetzt meiner Arbeit überlassen wollen. So wie ich Sie der Ihren überlasse. Oh, Golliver?«
    »Sir …«
    »Ich danke Ihnen, dass Sie mir die Angelegenheit zur Kenntnis gebracht haben. Guten Tag.«

 

    24
    D er Earl of Northumberland besitzt eine der großen

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