Algebra der Nacht
könnte ihn fast verachten, regte sich in ihr nicht ein Gefühl der Verbundenheit. Master Harriot vermag ebenso wenig selbst über sein Leben zu bestimmen wie sie.
»Genug nun davon«, sagt Mrs. Golliver. »Komm, Margaret.«
Sie verpasst ihr eine Ohrfeige. Eine leichte nur. Es sind die Wörter, die brennen. Genug nun davon. Als hätte die Haushälterin sich mit ihrer Mutter verbündet.
Bücher brauchst du jetzt nicht mehr …
In der Nacht liegt Margaret in ihrem kalten Bett, ihre Fingerspitzen brennen noch, die Erinnerung an das sengende Feuer sitzt in allen Poren. Sie kann sich nicht vorstellen, wie sie je Schlaf finden soll, und ist doch gerade eingedöst, als sie ein leises Tappen vernimmt. Gleich darauf ertönt eine Stimme.
»Margaret? Sind Sie da?«
Sie steht schnell auf, windet sich die Decke um ihr Unterkleid und schiebt den Riegel an der Tür zurück.
Er steht da, barhäuptig, in seinem schwarzen Gewand und hält eine Kerze in der Hand. Seine Stimme klingt bemüht munter.
»Ah! Hier wohnen Sie …«
Mehr als einmal hat ein Mann in ihrer Phantasie ihre Schlafkammer betreten. Wie der Meister hat er aber ganz und gar nicht ausgesehen.
»Ob Sie mir wohl eine Gefälligkeit erweisen könnten, Margaret?«
»Sir?«
»Es gibt etwas, das ich Ihnen zeigen möchte.«
Er verstummt.
»Im Freien, falls es nicht ungelegen kommt.«
Er wartet an der Schwelle, während sie wieder Unterrock, Rock und Weste anlegt. Dann bedeutet er ihr, ihm nach unten zu folgen. An der untersten Treppe tippt er sich mit dem Finger ans Ohr: Hören Sie.
Aus dem Dunkel der Innenräume dringt ein Geräusch wie tosende Ozeane. Das Schnarchen der Gollivers.
»Der zitternde Sopran, das ist Mister G«, flüstert Master Harriot. »Den Bass geigt seine schöne Buhlerin.«
Es ist zehn Minuten vor Mitternacht, und ganz Syon House schläft; die Erde selbst scheint unter grauen Pappeln und silbernen Birken zu schnarchen.
Margaret blickt nach unten. Der Herr hält einen Zylinder in der Hand, anderthalb Fuß lang, von modrigem Leder umhüllt.
»Mein Teleskop, Margaret. Es ist schon sehr alt. Ich hatte es in Virginia mit, das ist lange her. Die dortigen Algonkin waren sehr angetan davon. Bitte …«
Sie greift unbeholfen danach. Hält sich das Glas vors Auge, neigt den Kopf himmelwärts …
Und taumelt zurück unter dem Ansturm von Sternen, wo vorher nur Nacht war.
Das muss ein Trick sein, denkt sie, aber dann kommt der Mond
herangeschwommen. So riesig, dass sie es nicht glauben und erst recht nicht das Auge davon abwenden kann.
»Die Verstärkung ist nur dreifach, und der Ausschnitt ist ziemlich klein, wie Sie vielleicht sehen. Eines Tages werde ich wohl die These aufstellen, dass man, vorausgesetzt, konkave und konvexe Linsen sind im richtigen Verhältnis zueinander angeordnet, möglicherweise – nun, es ist schwierig, das vorherzusehen …«
»Den Mond richtig sehen kann«, sagt sie und lässt das Glas sinken.
»Ja, den Mond. Mit all seinen – all seinen Besonderheiten. Und wir werden mit ziemlicher Gewissheit beweisen, dass er nicht aus grünem Käse besteht.«
Oder aus müden Sternen , denkt sie. Das hat ihr Vater immer zu ihr gesagt, als sie noch klein war. Jede Nacht schwamm der jeweils müdeste Stern zum Mond hinab und legte sich ein Weilchen auf ihn – bis er sich so gestärkt hatte, dass er wieder zum Himmel aufsteigen konnte.
»Sir?«
»Ja?«
»Dürfte ich noch ein letztes Mal schauen?«
»Natürlich.«
Noch einmal gleitet der Mond vor ihr Auge: nicht ganz voll und nicht ganz real, aber stillvergnügt. Warum findet sie nie das richtige Wort für das, was ihr durch den Kopf geht?
Doch warum sollte es sie bekümmern? Die Welt tönt doch wahrlich genug. Frösche, Nachtschwalben, Schleiereulen, Ziegenmelker, Baumwachteln … jubeln und schimpfen und reimen ab und zu sogar auf eine verdrehte Weise. Weiter im Süden schlagen die Mitternachtsglocken, die die Geräuschkulisse in Pulsschläge teilen. Und über allem zieht der Mond seine Bahn.
Sie vernimmt die Stimme des Meisters, leise und fern.
»Doch, das will ich wohl meinen.«
Sie sieht zu ihm auf.
»Sir?«
»Die Nachtstunden eignen sich vorzüglich.«
Sie schüttelt den Kopf.
»Verzeihen Sie«, sagt er. »Ich habe nur gerade überlegt, was wohl die besten Bedingungen für Untersuchungen optischer Natur sein mögen. Die Nacht mit ihren stärkeren Kontrasten von Licht und Dunkel dürfte uns genauere Messungen der Brechung erlauben.«
Das uns ist ihr nicht
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