Algebra der Nacht
Neuerdings scheinen es viele Dinge darauf anzulegen, gefunden zu werden.«
Er blickt in den Isleworth Mill Stream.
»Nur Forellen nicht.«
Outer Banks, North Carolina
September 2009
25
» E ine Frau? «
Alonzo hatte Mühe, seinen Muffin im Mund zu behalten. Er trank einen großen Schluck Cranberrysaft und erklärte im kältesten Ton, den er zustande brachte:
»Es gibt keinen Beleg dafür, dass es eine Frau in Thomas Harriots Leben gab.«
»Na, das stimmt aber nicht ganz«, sagte ich. »Er hatte eine Schwester, sie wird in seinem Testament erwähnt. Auch einer Haushälterin und einem Hausmädchen hat er etwas vermacht. Er hatte Umgang mit Lady Ralegh … mit Lady Northumberland …«
»Henry, da du meinen Gedankengang absichtlich grob misszuverstehen beliebst, lass mich meine ursprüngliche Aussage genauer fassen. Es gibt in den Harriot-Dokumenten keinen Beleg für jemanden namens Margaret .«
Woraufhin mir Clarissas Worte einfielen.
Herrgott, sein genaues Geburtsdatum ist auch nicht belegt. Trotzdem wurde er geboren.
Mit großem Bedacht leerte Alonzo drei Tütchen Süßstoff in seinen Kaffee. »Du bist wohl der Skeptiker vom Dienst, Henry?«
»Und bist du nicht derjenige, der glaubt, Clarissas Visionen – warte, wie hast du dich ausgedrückt? – kämen von irgendwo außerhalb von ihr . Ich dachte, du interessierst dich für die neuesten Verlautbarungen aus besagter Quelle.«
»Wir haben aber Besseres zu tun, als hinter Margarets herzujagen. Oder Bettys. Noch heute Nachmittag fahre ich nach Ocra
coke und treffe mich mit einem Experten für die Geschichte der Algonkin. Einem alten Freund von – großer Gott, wo ist eigentlich Amory?«
Er war nirgends zu sehen. Als ich zehn Minuten später ging, stand er auf dem Schotterweg vor dem Haus herum. Er war neu gewandet in Seersucker-Hose und Smokinghemd. Auch mit neuem Gesicht. Alle Muskeln darin gaben nach.
»Er hört mir einfach nicht zu«, sagte er.
»Alonzo?«
»Ich sag's ihm ständig. Heute ist hier alles anders.«
»Alles anders?«
»So ist das bei Düneninseln. Sie verändern ihre Lage, sie formen sich um .«
Seit Jahrtausenden schon, informierte er mich, befinden sich die Outer Banks in Bewegung. Sand wurde von vor der Küste liegenden Sandbänken angespült oder mit der nächsten Flut hinausgetragen. In den gut 420 Jahren, die vergangen waren, seit Harriot und seine Mannen auf Roanoke Island gelandet waren, hatte sich die Nordküste eine Viertelmeile weit nach hinten verschoben; bis auf eine hatten alle Buchten der Insel ihre Gestalt verändert, und die meisten der südwestlich vorgelagerten Inseln gab es nicht mehr.
»Ich versuche die ganze Zeit, das Alonzo begreiflich zu machen, aber er hört mir nicht zu. Wo immer Harriot seinen Schatz deponieren wollte, diese Stelle gibt es nicht mehr.«
Ich befand mich in der seltsamen Lage, Amory Swale trösten zu müssen.
»Vielleicht hat Harriot ihn im Inland gelassen«, sagte ich.
Amory inspizierte die Sandkringel unter seinen Schuhsohlen.
»Manchmal frage ich mich«, murmelte er, »ob wir so etwas überhaupt tun sollten. Zeug ausgraben. Vielleicht wäre es besser, es ganz zu lassen.«
Und dann schüttelte er seinen Trübsinn abrupt ab. Entblößte seine tapferen Zähnchen vor mir.
»Schönen Tag noch«, sagte er.
Am Nachmittag probierten Clarissa und ich etwas anderes aus. Anstatt die Entschlüsselungsprogramme mit Namen zu füttern, versuchten wir es mit Zahlen. Harriots Geburtsjahr: 1560. Sein Sterbejahr: 1621. Das Jahr, in dem er nach London kam: 1580. Das Jahr, in dem er nach Roanoke abreiste: 1585. Geburts- und Sterbedatum von Elisabeth I ., das Jahr, in dem Jakob zum König gekrönt wurde. Sogar das Datum der Schlacht von Hastings und der Unterzeichnung der Magna Carta und alle anderen Gedenktage, die uns einfielen.
Wir verbrachten Stunden damit, wichtige Namen und Zahlen zu kombinieren. Und danach probierten wir es mit Gleichungen. Mit lateinischen und griechischen Buchstaben und mit römischen Zahlen und mit Gälisch und Sanskrit.
Und so weiter und so weiter, und wieder verging der Tag erfolglos. Meine Kraft reichte nur noch dafür, im Quiznos Jumbosandwiches und eine Literflasche Svedka zu holen, aus der Clarissa nach einigem Zögern schließlich doch nicht trinken wollte.
Wir aßen hastig, ich stürzte ein paar Glas Wodka hinunter, wir räusperten uns, und Clarissa griff gerade nach ihrem Laptop, da sagte ich:
»Wollen wir einen Spaziergang machen?«
Ich hatte kein
Weitere Kostenlose Bücher