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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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bestimmtes Ziel, und so gingen wir in Richtung Strand. Und als wir oben auf der Düne stehenblieben und uns die Schuhe von den Füßen kickten und den Wind spürten, war der Effekt sofort belebend: die Aromen von Salz und fauligem Tang und ein feiner sommerlicher Brandgeruch.
    Der Mond hatte seine Bahn übers Wasser gezogen. Ein Drachen flatterte an der Schnur; in der Ferne schwelten die Reste eines Lagerfeuers. Wir hatten das Fleckchen für uns.
    Clarissa schnappte sich einen Stock und malte ein Hufeisen in den Sand.
    »Gibt es noch andere Cavendishes auf der Welt?«
    »Ich habe einen Bruder, fünf Jahre jünger. Er ist Doktor.«
    »Wie Sie.«
    »Hm, er gehört zu der Fraktion, die Menschen hilft. Meine El
tern sind hochkompetente Senioren; sehr glücklich im Ruhestand. Meine Mutter ist die Maria Stuart von Scottsdale.«
    »Das haben Sie erfunden.«
    »Deshalb hört sie es auch nicht gern.«
    »Was ist mit Kindern?«
    »Gott, nein. Ich meine, der Kinder wegen Gott sei Dank.«
    Ich sah aufs Meer hinaus. Die Mondbahn verblasste von Goldgelb zu Rahmgelb.
    »Und Sie?«, sagte ich. »Auch irgendwo Familie?«
    »Alle tot.«
    »Aber Männer natürlich.«
    »Oh, glaub schon. Sie haben mich viel Zeit gekostet. Sie erinnern mich an einen von denen.«
    »Das heißt bestimmt nichts Gutes.«
    »Haben Sie schon mal …« Sie verstummte, tippte sich an den Kopf, wie, um sich selbst zu ermahnen. »Ach nichts.«
    »Was?«
    »Ich möchte nicht, dass Sie böse werden.«
    »Herrgott noch mal.«
    »Ich wollte nur sagen … okay, es scheint so, als würden Sie sehr viel trinken.« Sie vertiefte sich in eine intensive Betrachtung des Sands. »Ich glaube, ich weiß, warum Sie das tun, aber ich wünschte, Sie ließen es sein. So schlimm, wie Sie selber denken, sind Sie nämlich nicht. Und mehr sage ich dazu nicht, versprochen.«
    Zu meiner eigenen Überraschung begann ich zu lachen.
    »Was?«, fragte sie.
    »Ich weiß nicht, ich habe einfach nicht erwartet, dass sich jemand einmischen würde. Ich hab nie gedacht, dass aus mir mal das hier wird.«
    »Wer wollten Sie denn werden?«
    »Keine Ahnung. Es klingt total bescheuert, ich weiß, aber früher …«
    »Ja?«
    »Schön, auf die Gefahr hin, dass ich mich anhöre wie ein egozentrisches Arschloch, ich gehörte mal zu denen, von denen etwas …«
    »Erwartet wurde.«
    »Ja, genau. Vielleicht. Ich war ein summa cum laude . Sechsundzwanzig und meinen Doktortitel in der Tasche. Das Oriel College lud mich zu einem Vortrag ein. Einen Amerikaner! Der über Ralegh sprechen sollte! Ich weiß, es klingt lächerlich, à la der Englischprof hält sich für Gott weiß was – na ja, ich kann nur sagen, es sah so aus, als läge mir die Welt zu Füßen, aber mit einem Mal lief alles verquer. Und ehe ich mich's versah, war alles …«
    »Gelaufen.«
    »Ja.«
    »Henry, ich weiß nicht, ob das ein Trost ist, aber solche Rückschläge erlebt doch jeder. Mehr oder weniger.«
    »Oh, sicher.«
    »Sie hatten ein bisschen Pech, das ist alles. Alles in allem kommen Sie doch zurecht.«
    »Das ist sehr nett von Ihnen. Eine sehr großzügige Auffassung von Zurechtkommen.«
    Wir gingen wieder, inzwischen langsamer, unsere Kleidung blähte sich am Rücken. Schließlich kamen wir zu einer Stelle mit Pampasgras, das sich über die Sanddüne verteilt hatte und aussah wie eine kleine Laube.
    »Jemand zu Hause?« rief Clarissa und steckte den Kopf hinein.
    Aber die Laube war so leer wie der restliche Strand.
    »Dieses Gedicht«, sagte sie. »Das Sie in diesen Schlamassel gebracht hat, das von Ralegh.«
    Ich trat einen Schritt zurück.
    »Es war nicht von Ralegh.«
    »Sagen Sie mal, wie es hieß.«
    »Sie machen mich fertig.«
    »Bitte.«
    »Sie machen mich echt fertig.«
    »Tu ich nicht, ich will es wirklich wissen.«
    » Ein Name . Zufrieden?«
    »So ein seltsamer Titel. Ein Name .«
    »Tja, da haben wir's.«
    Ohne Vorwarnung ließ sie sich in den Sand fallen. Zog die Jacke etwas fester um sich.
    »Könnten Sie etwas daraus rezitieren?«
    »Himmel.«
    »Bitte. Ich werde Ihre beste Freundin. Ich backe Ihnen Brownies.«
    Ich musste lachen.
    »Zwei Zeilen, das reicht schon«, gurrte sie.
    Ich suchte hektisch nach anderen Ausflüchten.
    »Vier ist das Minimum«, sagte ich. »Es besteht aus Quartetten.«
    »Okay, vier«, sagte sie und tätschelte den Sandbuckel neben ihr.
    Ich begann schon, als ich mich niederließ. Hoffte, es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen, ehrlich, aber der Wind übertönte meine Worte,

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