Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
Vom Netzwerk:
Bibliotheken Englands: Hunderte und Aberhunderte dahinschimmelnder Bände, gespickt mit seinen Randbemerkungen. Es sagt also etwas über seinen Charakter aus, wenn er ihrer Gesellschaft so häufig und freimütig den Wissenschatz der Natur vorzieht.
    An diesem Nachmittag im April sitzt er unter einer Weide und blickt auf den Isleworth Mill Stream. In seiner rechten Hand hält er eine Angelschnur, die Stiefel sind mit Frühlingsmodder beschmiert, sein Atem geht langsam und gleichmäßig. Fast könnte man meinen, er sei wieder jung.
    In scharfem Kontrast zu seinem Erscheinungsbild steht sein Begleiter, dessen schwarze Kleider ihm das Aussehen einer Regenwolke verleihen, die in das Heiligtum der Weide eingedrungen ist. Thomas Harriot widmet sich dem Angeln mit demselben hingebungsvollen Eifer, der ihn auch in seinem Laboratorium antreibt. Rechtfertigen kann er diese Ausflüge vor sich selbst im Grunde nur durch die Annahme, er und der Earl näherten sich Zoll für Zoll unumstößlichen wissenschaftlichen Gesetzen, die allen künftigen Generationen von Fischern den Weg weisen werden.
    Heute freilich sind diese Gesetze schwer zu fassen. Die beiden Männer haben in den letzten zwei Stunden nicht eine Forelle gefangen. Und das, obwohl Harriot höchstpersönlich Fliegen aus schwarzer Wolle und Erpelfedern für sie gefertigt hat. Hätte er die Federn an der Unterseite gelb anstreichen sollen? Sie vorher in Fenchel tauchen? Sie noch vierzehn Tage länger wässern?
     
    Auf die Weise verliert sich Harriot und nimmt das Hier und Jetzt nicht mehr wahr: nicht den Gesang der Weidenäste und das elektrische Flirren von Licht und Bewegung auf der Wasseroberfläche. Anzuhalten vermag den Fortgang seiner Gedanken einzig die Stimme des Earls, der sich räuspert.
    »Mein lieber Tom. Was diese Assistentin betrifft …«
    Der Satz bleibt unvollendet. Der Earl hinterlässt eine Lücke des Schweigens, in die Harriot jetzt springen muss.
    »Um die Wahrheit zu sagen, Euer Gnaden, benötige ich schon lange einen Gehilfen und war zu stolz, darum zu bitten. Wie die Dinge jetzt liegen, wäre ich gezwungen, jemand anderen aus Eurem Hausstand zu rekrutieren, was eine unannehmbare Belastung Eurer Gastfreundschaft wäre.«
    Wie trocken sein Mund ist.
    »Ich habe meine optischen Experimente gerade bis zu einem besonders prekären Stadium vorangetrieben und festgestellt, dass Miss Crookenshank einen unschätzbaren Beitrag dafür leistet, diese Untersuchung zu ihrem gewünschten Abschluss zu bringen.«
    Der Earl schweigt noch immer.
    »Natürlich, Euer Gnaden, will ich den Gollivers, die mir gegenüber immer loyal gewesen sind, nicht noch weitere Lasten aufbürden. Wenn es an neuen Hausmädchen mangelt, bin ich es vollkommen zufrieden, alle Folgen zu ertragen: Unordnung, Staub, Liederlichkeit … Ich wäre der Letzte, der sich beklagte. Oder es auch nur bemerkte.«
    Der Earl nimmt die Angelschnur in die linke Hand, ruckt ein paarmal sacht daran und lehnt sich dann wieder an den Weidenstamm.
    »Du bist in diesem Punkt fest entschlossen, Tom?«
    »Wäre ich es nicht, hätte ich das Thema nicht aufgebracht.«
    »Und du bist sicher, dass du diese bestimmte Person hinzuziehen möchtest?«
    »Ja.«
    Der Earl ruckt abermals an der Angel.
    »Wie kann ich es dir deutlich machen, Tom? Wenn es die Ge
sellschaft ist, deren du bedarfst – nein, bitte hör mich an –, wenn du auf eine Gefährtin aus bist, wäre ich der Letzte in der ganzen Christenheit, der sie dir missgönnte. Du brauchst kein Bedürfnis zu ersinnen, um … ein anderes Bedürfnis zu rechtfertigen.«
    Und just die Vorsicht, mit der er seine Worte wählt, treibt Harriot in die entgegengesetzte Richtung.
    »Miss Crookenshanks ist nicht meine Geliebte.«
    »Ich unterstelle dir nichts Unehrenhaftes, Tom, ich bin lediglich überrascht. Wenn die Erinnerung mich nicht trügt, hast du dich nie für die Angelegenheiten einer Bediensteten interessiert. Was ist an dieser so außergewöhnlich?«
    »Ich weiß es nicht zu sagen.«
    »Sie ist hübsch, ja?«
    »Vielleicht. Nicht so sehr. Ich weiß es nicht.«
    Der Earl lacht.
    »Zum Dichter von Sonetten wirst du es nicht bringen, fürchte ich.«
    »Die Achtung, die ich für sie habe, hat nichts mit ihr als Person zu tun, Euer Gnaden. Sie hat eine Eigenschaft , die ich, dass muss ich gestehen, nur mit Mühe benennen könnte.«
    »Tu, was du kannst.«
    Harriot starrt über den Fluss, wo eine Platane ihm vergeblich zuwinkt.
    »Ich glaube, es ist dies, Euer Gnaden.

Weitere Kostenlose Bücher