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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Sie hat sich noch nicht in den Lauf der Dinge geschickt , wie andere Mädchen in ihrer Lage es wohl tun. Sie strebt dem Lichte zu. Nur merkt sie nicht mehr, dass sie das tut.«
    »Und woran merkst du es also?«
    »Ich war in ihrem Alter ebenso. Wenn ich sie ansehe, sehe ich mich selbst.«
    Der Earl lächelt versonnen. Schüttelt den Kopf.
    »Ihr könntet kaum gegensätzlicher sein, Tom. Du bist ein Mann , Tom, mit den Fähigkeiten eines Mannes. Du kannst nicht erwarten, dass die Natur eine Frau mit den gleichen Eigenschaften ausstattet.«
    »Euer Gnaden, ich maße mir nicht an, zu wissen, was die Natur
für die Geschlechter vorgesehen hat. Ich weiß nur eines: Wäre ich in Margarets Alter und müsste hören, ich dürfe … nicht lernen , dürfe mich nicht auf die Welt werfen mit all ihren Geheimnissen, ihren Möglichkeiten . Wenn es eine Frage des Geldes ist, Euer Gnaden, werde ich Margaret mit Freuden aus meiner eigenen Börse entlohnen.«
    »Ach, Geld. Das rinnt mir doch in jeder Minute aus den Händen. Kein Arzt könnte mich gründlicher zur Ader lassen als mein eigener Besitz.«
    Der Earl streckt seine Beine aus, lässt seine Angel für einen Moment schlaff im Wasser hängen.
    »Also gut, Tom, du darfst deine Bitte als gewährt betrachten.«
    »Euer Gnaden …«
    »Aber im Gegenzug möchte ich dich um einen Gefallen bitten.«
    Der Earl senkt seine Stimme nur um ein Grad.
    »Am Sonntag, dem 8. Juni, wird Syon House die unsagbare und übergroße Ehre zuteil, Seine Majestät den König von England empfangen zu dürfen. Außer dir weiß es noch niemand. Und nachdem ich dir dieses beachtliche Kompliment gemacht habe, muss ich die Waage mit einer Beleidigung ausgleichen.«
    »Euer Gnaden?«
    »Ich muss dich freundlichst bitten, dich fernzuhalten.«
    Da treffen sich ihre Blicke. Der Earl wendet seinen zuerst ab.
    »Du, Tom, bist ein Opfer unserer unsicheren Zeiten. Noch unerfahren in seinem Amt, schwankt der König von einem Tag zum nächsten in seiner Meinung, wer mit ihm und wer gegen ihn ist. Nun bei einem hat er leider nie geschwankt.«
    »Sir Walter.«
    »Seine Majestät betrachtet unseren Freund als fauliges Glied. Und schneidet er erst einmal eines ab, wie ließen sich die hiermit verbundenen Glieder retten?«
    »Sie wollen also die Ansteckung hemmen.«
    »Ich will dich schützen, Tom. Und uns alle. Du bist in höfischen Kreisen besser bekannt, als du denkst. Ist das Auge des Königs erst einmal auf dich gefallen, so wird er sich unweigerlich an Sir Walter erinnern. Und das wird ihm die sogenannte Schule
des Atheismus ins Gedächtnis rufen. Was den König prompt in üble Stimmung versetzen wird. Ich kann mir aber keinen schlecht gelaunten König leisten.«
    Er verwendet das Wort »leisten« nicht leichtfertig. Der Earl hat seine Ländereien nur gepachtet. Wenn er sich beim König einschmeicheln kann, wird Syon Park eines Tages vielleicht sein Eigentum.
    »Ich bin froh, dass Euer Gnaden nicht mit demselben Makel behaftet sind wie Sir Walter und ich.«
    »Ich habe mir, wie du weißt, große Mühe gegeben, mich reinzuwaschen. Wir werden sehen, ob meine Anstrengungen erfolgreich waren.«
    Master Harriots Lächeln hat jetzt einen Hauch von Wehmut.
    »Was kann ich noch sagen, Euer Gnaden? Führen Sie mich zum nächsten Kloster, und ich begebe mich hinein.«
    »Vergiss nicht, wir leben auf Grund, der einer Abtei gehört. Dein Haus sollte Kloster genug sein.«
    Der Earl atmet tief aus. Legt die Hand auf die Schulter des kleineren Harriot.
    »Meiner Erinnerung nach hat höfisches Leben dir nie besonders behagt.«
    »Das ist richtig.«
    »Dann leb mit der Hoffnung, dass ich, sobald ich den König von meinen Absichten überzeugt habe, ihn auch dafür gewinnen kann, Milde walten zu lassen. Dir und Sir Walter gegenüber.«
    Der Kopf des Earls ist ein wenig zur Seite gesunken, und seine Augen sind halb geschlossen. Man könnte meinen, er schliefe, aber seine Stimme klingt fest und klar.
    »Es gibt keine Spuren von ihm, nehme ich an.«
    »Spuren wovon, Euer Gnaden?«
    »Von unserem dunklen Schatz.«
    Das war Marlowes Name dafür. Und wie könnte man jenes Produkt nächtlicher Arbeit auch besser beschreiben: fünf Männer, die bis zum Morgengrauen schuften, sich gegenseitig trotz aller Schrecken anspornen … und mit noch größerem Entsetzen sehen, was sie hervorgebracht haben.
    »Von dem Schatz, Euer Gnaden, bin ich noch immer gleich weit entfernt wie vor zehn Jahren.«
    »Dann wollen wir beten, dass es so bleibt.

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