Algebra der Nacht
Margaret«, flüsterte sie. »Irgendetwas stimmt nicht.«
»Schon gut.«
»Nein, ist es nicht. Wir sind alle tot …«
26
A uf dem Rückweg zum Motel sprachen wir kein Wort. Eine seltsame Zurückhaltung hatte uns erfasst, nicht Verlegenheit oder Schüchternheit. Wir wollten einfach mit unseren Gedanken alleine sein. Und mit unseren Körpern, denn wir gaben einander keinen Gutenachtkuss, auch wenn Clarissa mir leicht mit dem Zeigefinger über die Wange strich, bevor sie ihre Zimmertür schloss.
Es war kurz vor Mitternacht, als ich meine Tür aufschloss. Mein Gehirn musste schon in Tiefschlaf verfallen sein, denn ich bemerkte weder, dass die Lampe neben dem Fenster brannte, noch hätte ich bemerkt, dass ich Besuch hatte, wenn ich ihn nicht aus einer Ecke hätte sprechen hören.
»Das wurde aber auch Zeit!«
Alonzo. Auf einem Rattanthron. Er trug einen gewaltigen dunkelblauen Seidenkimono und schwenkte eine halbleere Flasche Grey Goose wie eine Heilsarmee-Glocke.
»Du hättest ruhig eine saubere Tasse dalassen können«, grummelte er.
»Du hättest eine spülen können. Es gibt fließendes Wasser hier, weißt du.«
Ich sah zu, wie er den Drehverschluss der Flasche mit Wodka füllte und hinunterkippte.
»Was machst du hier, Alonzo?«
Er füllte nach, verfehlte diesmal aber sein Ziel und ein kleiner Wasserfall aus Wodka landete auf dem Fußboden.
»Das sind die Nerven«, schlug ich vor.
»Jeder hat damit ab und an Probleme.«
»Sicher.«
»Das ist keine Schande. Ich meine, es wäre etwas anderes, wenn Amory zu Hause wäre.«
»Wo ist er?«
»Woher soll ich das wissen? Er ist ein Nachtmensch, schläft tagsüber und wird erst nach Einbruch der Dunkelheit aktiv. Manchmal findet man ihn gar nicht. Außer natürlich, man kann ihn gerade nicht gebrauchen, da hängt er sich an dich wie eine Klette.«
Alonzo betrachtete eine Weile die Wodkaflasche und stellte sie dann behutsam auf den Fußboden.
»Was soll ich sagen, Henry? Ich hab versucht in seiner verdammten Bruchbude zu schlafen und konnte einfach nicht. Da waren seltsame Geräusche …«
Er hielt inne, als erwarte er, dass ich diese Geräusche ebenfalls hörte.
»Nichts Schlimmes«, beeilte er sich zu sagen. »Ich brauchte nur ein bisschen Gesellschaft. Und du warst die beste, die ich finden konnte.«
»Ich fühle mich geehrt«, sagte ich. »Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich jetzt schlafen gehe.«
»Mach, wie du willst«, sagte er leichthin.
Ich zog mich gar nicht erst aus, sondern fiel gleich der Länge nach in das erstbeste Bett.
»Du kannst das andere nehmen«, murmelte ich.
»Oh, gerne.«
Aber als ich am nächsten Morgen um kurz vor acht aufwachte, saß er immer noch in dem Sessel, erschöpft, aber wach. Es war nicht zu sagen, ob er in der Zwischenzeit überhaupt die Augen geschlossen hatte. Nur der Pegel in der Wodkaflasche war gesunken.
»Morgen«, murmelte ich.
Alonzo sagte nichts. Ich hievte mich aus dem Bett, ging ins Badezimmer und zog mir eine Shorts an, die ich vor zwei Tagen
angehabt hatte und ging ohne ein weiteres Wort zur Veranda hinunter.
Der Tag heizte sich bereits auf, und der Strand war genauso leer, wie am Abend zuvor. Bis auf eine einzelne Gestalt, die langsam in Richtung Südwesten davonging. Groß und dünn der Mann, barfuß, von kraftvoller Sprödigkeit. Er trug eine Fischermütze und ein weißes T-Shirt, auf das in grell-pinkfarbenen Lettern »Surf's Up!« gedruckt stand, und dazu knielange Bermudas, die bei jedem anderen als lange Hose durchgegangen wären. Sein Schritt war gleichmäßig und friedlich. Er sah nicht einmal in meine Richtung.
Zehn Sekunden später war ich zurück in meinem Zimmer. Alonzo sah mich erstaunt an.
»Was ist los?«, fragte er.
»Wir sind in Schwierigkeiten.«
Und noch während ich die Worte sprach, fiel mir ein, was Clarissa nur wenige Stunden zuvor am Strand gesagt hatte.
Wir sind alle tot .
Amory Swales Hütte sah noch löchriger aus als sonst. Die Haustür war unverschlossen, und niemand antwortete, als wir ins Obergeschoss riefen. Als wir in Amorys Zimmer nachsahen, fanden wir sein Bett unberührt vor.
»Die Sache gefällt mir nicht«, sagte Clarissa.
Alonzo blickte finster, als er zurück ins Wohnzimmer ging und sich dort umsah.
»Sag mal, Henry, als du heute Morgen Halldor entdeckt hast, hat er dich da auch gesehen?«
»Ich weiß nicht.«
»Du weißt nicht?«
»Ist doch auch egal. Wenn er hier ist, weiß dein Kumpel Bernard Styles, wo wir
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