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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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sich dieselbe Veränderung eines Tages womöglich bei belebter Materie bewirken? Und dann? Tja, dann würden die letzten Unreinheiten unseres Fleisches verglühen wie Schlacke, und auf dem ganzen Erdenrund würde ein Zustand ekstatischer Perfektion herrschen.
    Träume dieser Art schüttelt der Träumer nicht einfach so ab. Kein Wunder also, dass Harriot das Feuer unter den Brennern schürte und sich auf die Unsterblichkeit warf. Es gab nur ein Problem …
     
    »Es ist unmöglich«, rief ich Alonzo ins Gedächtnis.
    »Was?«
    »Als Einzelner kann man aus Blei kein Gold machen. Deswegen hat Harriot es aufgegeben.«
    »Henry, hör zu. In der Optik, in der Astronomie, in der Physik war Harriot anderen Wissenschaftlern um Jahre, ach was, um Jahrzehnte voraus. Könnte es nicht sein, dass er in diesem besonderen Punkt um ein paar Jahrhunderte voraus war? Dass wir ihm bei manchem bis heute hinterherhinken?«
    »Oh, verstehe. Harriot braut sich – mal eben so – einen Topf Gold zusammen. Und vergräbt ihn in der Erde. Wie ein blödes
Heinzelmännchen. Und erzählt keiner Menschenseele davon, lässt ihn halt da verrotten.«
    »Er konnte es nicht riskieren. In der Welt von König Jakob grenzte Alchemie an Häresie.«
    »Gott, wie erklär ich dir das bloß, Alonzo?«
    »Solomon.«
    »Ein Goldatom, Solomon , hat drei Protonen weniger als ein Bleiatom. Dieser Unterschied lässt sich in einem mickrigen Tudor-Laboratorium nicht mal eben so ausgleichen. Dafür braucht man – Himmel, einen Teilchenbeschleuniger oder so. Und selbst dann besäße das Gold, das man herstellt, einen viel geringeren Wert als die Energie, die man dafür aufwenden muss.«
    Ein leises Summen entstieg Alonzos Nase, der Ton mal höher, mal tiefer.
    » Es gibt mehr Dinge – «
    »Gott.«
    »  … zwischen Himmel und Erde – «
    »Lass gut sein.«
    »  … als Eure Schulweisheit sich träumen lässt. «
    »Ja, und weißt du was? Shakespeare wusste keinen Piep über Teilchenphysik. Und, bei allem Respekt, Harriot auch nicht.«
    Danach war Alonzo endlich still, aber ich kannte sein Schweigen. Im Allgemeinen bedeutete es nicht ein Jota Einsicht. Und meine Benadryl begann schließlich zu wirken. Ich setzte die Schlafbrille auf, zog die dünne Decke über mich und kippte den Sitz noch ein paar Zentimeter nach hinten.
    »Alchemie«, murmelte ich. »Sonst noch was.«
    Mein Skeptikergesicht war wie eine Wand. Ich erzählte Alonzo freilich nicht, dass ich vor drei Tagen ablenkungshalber einmal einen Blick auf Harriots ursprüngliche Karte geworfen hatte. Ich hatte keinen besonderen Grund, sie mir vorzunehmen; das Blatt enthielt nichts, was ich nicht schon ein Dutzend Mal gesehen hätte.
    Bis auf eines.
    Auf der rechten unteren Ecke stand, leicht erhaben wie eine Narbe, ein einzelnes Wort. Mit feinster Tinte hingekratzt, sicht
bar nur in dem in genau diesem Winkel einfallenden Spätnachmittagslicht: pneuma .
    Nicht von Harriots Hand, soweit ich es beurteilen konnte. Nicht einmal Schreibschrift; die Buchstaben standen isoliert nebeneinander, und das a wäre beinahe vom Blatt gepurzelt.
    Ich starrte eine ganze Weile auf das Blatt. Einerseits, es war mir klar, hatte ich nur ein Wort vor mir. Das griechische Wort für »Geist«. Aristoteles warf damit um sich wie mit Bonbons.
    Mir war aber auch klar, dass ich hier etwas anderes vor mir hatte. Den Grundstein für die Alchemie des Mittelalters.
    Pneuma war das aktive Prinzip oder die Lebenskraft, die, so nahm man an, in allen irdischen Stoffen wirksam war. Wollte ein Alchemist wie Thomas Harriot einen Stoff in einen anderen umwandeln, so musste er dessen Pneuma – seinen Anteil am Kern des Göttlichen – transmutieren und wurde damit faktisch zum Neuschöpfer , der dem Chaos neue Formen abtrotzte.
    Erstaunlich, als ich nun darüber nachdachte, wie viele Fragen sich aus dieser einen Buchstabenfolge ergaben. Führte Harriot auch nach 1600 noch alchemistische Experimente durch? War er auf etwas gestoßen, dass in die historischen Quellen keinen Eingang gefunden hatte? Konnte es sein, dass er das Gold, das er so unbedingt verstecken wollte, tatsächlich einmal gemacht hatte? Oder das zumindest glaubte ?
     
    Irgendwo über dem Atlantik trat Harriot in meine Träume. Es war keine Vision, wie Clarissa sie hatte, sondern der ganz normale, primitive Wanderzirkus des Unterbewusstseins. Da war der große Mann persönlich; von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, stand er vor seinem Häuschen aus Bather Stein. Ich spürte einen

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