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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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ehrenvoll sein.«
    Seine Nasenflügel beben bei diesen Worten, als verkünde er einen ganzen Verhaltenskodex.
    Aber das ist nie Harriots Kodex gewesen. Seine Arbeit war ihm immer eine eifersüchtige Gefährtin. Dass eine Frau in sein Leben tritt, die sich seine Arbeit aneignet und in ihr aufgeht … die Möglichkeit ist ihm nie in den Sinn gekommen. Und jetzt, da er eine solche Frau gefunden hat, gelten die alten Voraussetzungen nicht mehr. Und deshalb verdrießen ihn die Worte des Earls nicht nur, sondern schmerzen ihn auch.
    Der Ehestand kann auch ehrenvoll sein.
    Eine Woche lang sinnt er der Frage nach. Ertappt sich dabei, dass er Margaret anstarrt, als könne ihre bloße Gegenwart ihn in die eine oder andere Richtung ziehen. In seltenen Moment räuspert er sich sogar wie ein Redner am St.-Krispinstag vor seinem Vortrag. Jedes Mal blickt sie ihn erwartungsvoll an, und jedes Mal versiegt die Quelle wieder.
    Eines Sonntagnachmittags findet sie ihn in seinem Studierzimmer, wo er einen alten Band Sallust durchblättert. Verschmitzt lockt sie ihn mit dem Zeigefinger.
    »Komm.«
    Sie folgen demselben Pfad wie am Mittsommerabend, hinauf zum Nordwestturm des Hauses. Diesmal geht Margaret voran. Sie hat kein Teleskop in der Hand, aber ihr Schritt ist soldatisch entschlossen. Sie führt Harriot die Treppe hinauf, zieht den Schlüssel aus der Schürzentasche, schiebt die Tür auf und zeigt, zur Brüstung schreitend, gen Westen.
    Zu beiden Seiten der untergehenden Sonne stehen die Ausläufer eines Regenbogens. Nichts als Luft zwischen ihnen.
    Harriot schaut verdutzt. Offenen Mundes.
    Parhelion , so nennen die Gelehrten diese Erscheinung. Und seinem Gedächtnis entsteigt der Name, den er als Kind zum ersten Mal gehört hat: Sonnenhund . Seine Mutter hat ihm immer erzählt, Gott habe den Regenbogen, auf dessen Schönheit er eifersüchtig war, vom Himmel gepflückt und nur diese zwei widerspenstigen Lichtwurzeln und einen ganz feinen Schein am Himmel gelassen, der sie verbindet.
    Natürlich hat er seiner Mutter geglaubt. Und der Schock, die Erscheinung noch einmal zu sehen, und ausgerechnet hier , fünfzig Fuß über der Erde, während Margaret die Schulter an seine drückt – abermals steht er stumm vor dem Ereignis.
    Es ist Margaret, die das Schweigen bricht.
    »Das Licht ist an der sonnenzugewandten Seite rot, wie du siehst. An den gegenüberliegenden Seiten blau. Und dazwischen … nun, violett, gewiss, aber beachte, wie verschwommen und undeutlich diese Farben sind. Neben die eines voll ausgebildeten Regenbogens gestellt …«
    Die herabsinkende Sonne macht ihre helle Haut durchscheinend. Und sie lässt die zitternde blaue Ader an ihrer linken Schläfe hervortreten.
    »Ich frage mich, ob hier noch eine andere Form der Brechung zur Wirkung kommt«, sagt sie. »Eine Art Kristall, für unsere Augen unsichtbar. Irgendetwas ist da, glaubst du nicht? Dass die Strahlen von ihrer natürlichen –«
    »Heirate mich.«
    Es hatte wie selbstverständlich klingen sollen – die natürlichste Aussage von der Welt. Aber Margaret fährt zurück wie von einem Musketenstoß, und ihre Aufmerksamkeit, zuvor ganz den Lichtkörpern zugewandt, ist nun auf ihn gerichtet.
    »Du sagst, ich soll dich heiraten?«
    »Ja.«
    »Und sagst es aus freien Stücken? Von Herzen?«
    »Ja.«
    »Wissend, dass ich kein Kind erwarte? Dass du mir gegenüber keinerlei Verpflichtung hast?«
    »Das alles weiß ich.«
    »Dann lass mich dir mit einer Gegenfrage antworten: Warum müssen wir heiraten?«
    Er hebt in einer flehentlichen Geste die Hände.
    »Was sollen wir sonst tun?«
    »Weitermachen wie zuvor.«
    »Ich weiß nicht, ob wir das könnten. Und weiß nicht, ob ich es wünschte.«
    Unterdessen hat sich der feine Schimmer von ihrer Haut verflüchtigt. Ihr Gesicht ist eine spröde weiße Maske.
    »Was in Herrgotts Namen ist in dich gefahren? Wir beide …«
    »Ja?«
    »Fangen wir damit an! Wir kennen einander doch kaum. Wir entstammen ganz verschiedenen Sphären – verschiedenen Welten . Keine zwei Monate ist es her, dass ich dein Hausmädchen war.«
    »Aber haben wir seither nicht faktisch jede wache und schlafende Minute zusammen verbracht? Gibt es irgendeinen Winkel
meines Herzens – meines … kennen wir einander nicht in- und auswendig?«
    Errötend wendet sie sich ab. Geht zur anderen Seite der Brüstung, der Sonnenhund in ihrem Rücken. Die Stimme, die an sein Ohr dringt, ist leise und gereizt.
    »Ich kann den Klatsch jetzt schon hören. Sie werden

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