Algebra der Nacht
sagen, ich hätte dich in mein Netz gelockt. Was für eine Schelmin, werden sie denken –«
»Margaret …«
»Was für eine Hure . Durch freundliche Vermittlung der Gollivers sind gewiss schon schlimmere Worte gefallen.«
»Was kümmert dich die Meinung der Welt? Was kümmert sie mich?«
Sie verstummen beide. Dann, sehr langsam, kommt sie zu ihm. Nimmt seine langen kalkigen Finger in die Hand. Hebt die Augen zu seinen.
»Ich wünschte, ich hätte Worte, es dir zu sagen.«
»Sag, was du kannst.«
»Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich frei. Und diese Freiheit hast du mir geschenkt. Ich bitte dich inständig, nimm sie mir nicht fort.«
»Aber ich würde nie …«
»Nicht willentlich, das weiß ich. Du würdest mich in bester Absicht heiraten – so wie die meisten Männer –, aber am Ende käme das Gleiche dabei heraus. Ich wäre dein Eigentum.«
»Wofür hältst du mich? Eigentum …«
»Und da es so ist, bin ich lieber deine Dienerin.«
Sie legt die Hand auf seine Wange. Nicht erzürnt, wie es scheint, sondern bedauernd.
»Ich liebe dich, Tom. Aber dein Weib darf ich nicht werden.«
Den nächsten Tag verbringt er für sich allein. Nicht aus verletztem Gefühl, wie sie unweigerlich denken muss, sondern aus einem Übermaß an Gefühlen. Sie hat ihn abgewiesen, ja, aber zum ersten Mal ist ihr sein Taufname über die Lippen gekommen. Und das in außerordentlichem Zusammenhang.
Ich … liebe … dich … Tom.
Wie trügerisch dieses Verb ihm ehemals erschienen war. Und jetzt ist es unmissverständlich mit Harriot als seinem direkten Objekt verbunden. Das sticht alle anderen Bedenken aus: den üblen Willen der Gollivers, die Anstandsformen des Earls, sogar Harriots eigenen Begriff von seiner Berufung. Es kann keine Berufung geben , an der sie nicht innerlich beteiligt ist.
Am nächsten Abend erscheint er zur üblichen Zeit im Laboratorium. Sie wartet auf ihn. Keiner bringt ein Wort über das Vorgefallene heraus. Sie fahren mit ihrer Arbeit fort. Und wirklich, über der Arbeit findet er sich vollkommen mit Margarets Zurückweisung ab – oder, näher an der Wahrheit, sieht die darin enthaltene Lüge.
Denn mit jeder Sekunde tritt es klarer zutage: Sie hat ihm nichts verweigert. Sie ist ganz und gar sein.
Man braucht nur zu sehen, wie sie instinktiv um ihn kreist in dem beengten Raum, sich seinen Bahnen anpasst. Man braucht nur zu hören, wie sie leise summt, als sie den Arbeitstisch aufräumt. Man braucht nur zu beobachten, wie sie kurz vor Mitternacht hinausschlüpft und ihm einen Krug Bier holt.
Und nun, man beachte, lässt er den halben Krug für sie übrig. Man höre die leise Zärtlichkeit, mit der er ihren Namen spricht: Danke, Margaret … Ja, Margaret, so sollte es hübsch gelingen.
Und ziehen sie sich am späteren Abend nicht auf seine Federmatratze (seinen einzigen Luxus) zurück? Erkundet er sie nicht mit dem Elan eines Frischvermählten? Und was, wenn sie gegen Morgen hinausschlüpft? Am Nachmittag ist sie ja wieder da. Macht sich nützlich, wie immer. Legt die Phiolen und Prismen zurecht. Poliert die Zinngefäße und Bronzescheiben. Schilt ihn, weil er so umständlich seine Messungen vornimmt. Beugt sich über ihn, wenn er rechnet. Oder kratzt selbst Zahlenkolumnen auf ihr Blatt.
Und fragt ihn unweigerlich irgendwann:
»Warum veröffentlichst du nie etwas?«
Worauf er nur murmeln kann:
»Irgendwann … werde ich bestimmt … nächstes Jahr vielleicht …«
Was er erforscht, bleibt hier in diesem Raum, und nur hier. Atomist, der er ist, und angeblicher Atheist und ein Freund des meistgehassten Mannes auf dem Gebiet, muss er die Welt meiden, wenn er von ihr gemieden werden will.
Sie weiß hiervon nichts, und daher macht sie sich mit heiterem Herzen über die vielen Papiere her, häuft sie zu Stapeln, umwickelt sie hübsch mit Zwirn – bekundet mit jedem Handgriff, dass hier das Samenkorn eines Opus magnum liegt, das gerade jetzt im Lehm seines Geistes keimt.
Eines Abends findet sie beim Kramen in einer Truhe die schon zerfallenden Reste eines Geheimfachs. Als sie die letzten Stücke feuchten Holzes wegzieht, fördert sie einen Stapel gelbes Kanzleipapier zutage. Eine lange Kette krümeligen Staubs kommt hinterher, als sie ihn ans Licht zieht.
»Was mag das sein, Tom?«
»Die Annalen meines Scheiterns.«
Sie hört nur mit halbem Ohr zu. Ihr Zeigefinger kriecht schon zu dem einen Wort, kühn auf das oberste Blatt gekritzelt.
» Aurum .«
Sie sieht zu
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