Algebra der Nacht
er sie nicht in den Graben fuhr.
»Warum ist deine Mutter nicht gefahren?«, fragte ich.
»Die Möglichkeit ist uns gar nicht eingefallen. Ich glaube, damals haben Mütter das nicht getan.«
»Und die Situation ist euch nicht komisch vorgekommen?«
»Ich dachte halt, alle Väter wären so. Du meinst, waren sie nicht?«
Ich küsste sie auf die Augenbraue. Dann mitten aufs Auge.
»Okay«, sagte ich. »Mit fünfzehn hab ich ein Gedicht geschrieben.«
»Also wirklich . Von mir gibt es zehntausend …«
»Nein, nicht über Karussells oder Einhörner, okay? Es war ein petrarkisches Sonett …«
»Oh.«
»Inspiriert von Sally Markowitz, die eine Klasse unter mir und
im Drill Team war und die von meiner Existenz kaum wusste. Ich habe also das Gedicht geschrieben und es dann meiner Mutter gezeigt.«
»Gott.«
»Sie war Englischlehrerin , deshalb. Wenn es ihre Billigung gefunden hätte, dann hätte Sally Markowitz sich dem ja anschließen müssen, verstehst du?«
»Also deine Mutter liest es …«
»Und fängt schon bei der ersten Zeile an zu lachen. Ich glaube, so sehr hatte sie vielleicht noch nie in ihrem Leben gelacht. Und dann hat sie es meinem Vater gezeigt, und er lachte auch.«
»Und du , was hast du gemacht?«
»Äh … ich bin wieder in mein Zimmer gegangen. Und hab das Gedicht praktisch aus meinem Bewusstsein verdrängt . Ich könnte dir heute keine Zeile mehr davon aufsagen.«
Sie legte die Hand auf meine Brust.
»Tut mir leid, Henry.«
»Nein. Ich meine, du hast mich doch gefragt, und das war das erste, was mir –«
»Okay.«
»Also lass es gut sein.«
»Ja.«
Sie lag eine Weile still.
»Und da bist du dann Schriftsteller geworden?«, sagte sie schließlich.
»Da habe ich gelernt, dass es sich lohnt, andere Schriftsteller gründlich zu lesen.«
Unter schallendem Gelächter rollte sie sich auf mich. Ich bekam ihre Haare in den Mund, ihre schwarzen Augen glänzten, und sie spielte mit meiner Stirnlocke, wickelte sie sich um den Zeigefinger. Ihr Atem schmeckte nach Kardamom.
»Weißt du was, Henry? Wenn du dir das ausgedacht hast, kriegst du es irgendwann zurück.«
»Fertigbringen würdest du das«, sagte ich. »Aber zufällig stimmt es.«
»Also gut. Dann frag ich auch nicht, ob du geweint hast.«
»Hab ich nicht. Das war Ehrensache.«
»Mm.« Sie machte langsam die Augen zu. »Weißt du was, Henry? Wenn wir deine Mutter zu meinem Vater ins Auto hätten setzen können, wären wir alle Probleme los gewesen.«
Den Rest des Nachmittags lagen wir im Bett, mal träge erschlafft, mal aufgeregt, immer abwechselnd. Die ganze Zeit aneinandergekuschelt. Zwischendurch wachte ich ab und zu auf und fand mich in immer neuen Gegenden von Clarissas Körper wieder – kostete ein Ohrläppchen oder die Perlenschnur ihrer Lendenwirbel, beschrieb Kreise um ihre Aureole –, staunte über ihre Vielfalt. Ungefähr zehn Minuten lang widmete ich mich allein der Mondlandschaft ihres Schambeins, den Übergängen von Winkeln zu Rundungen und den Auskragungen, die erst mit der Senkrechten liebäugelten und dann doch ins Abschüssige führten …
»Henry?«
Ihre Stimme schwebte zu mir herab.
»Hörst du mich?«
»Yep …«
»Was, wenn wir abhauen würden?«
»Wenn wir was?«
»Wenn wir einfach aufgeben. Und nach Hause fahren.«
Ich hob den Kopf.
»Warum sollen wir das tun?«
»Weil wir es können.«
Ich rollte mich auf sie. Stützte das Kinn auf ihren makellos flachen Bauch.
»Okay«, sagte ich. »Nach Hause, wo genau wäre das?«
»Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht.«
»Ja?«
»Im Moment neige ich zu Kiawah Island.«
»Alle Achtung.«
»Es ist wunderschön da.«
»Aber sicher, ich bin bloß – was würden wir dort machen? Als Hausmeister jobben …?«
»Dich seh ich als Parkranger. Irgendwo auf dem Festland.«
»Feste Arbeit«, räumte ich ein.
»Und du würdest toll aussehen mit der Uniform. Und solange du im Dienst bist, würde ich – vielleicht Schmuck herstellen, aus Recyclingmaterial, weißt du. Und Golf spielen lernen. Und wir könnten Pokerturniere besuchen, Henry.«
»Und wenn du mit dabei bist, brauchten wir uns wegen Straßenräubern keine Sorgen zu machen.«
»Straßenräuber gibt es auf Kiawah nicht. Ein paar Alligatoren, aber das war's schon. Du könntest am Strand lesen. Jedes einzelne Shakespeare-Sonett unter einem großen Union-Jack-Sonnenschirm, so einem kippbaren. Mit Windöffnung. Du mit den Zehen im Sand, Henry, die Thermoskanne mit Mojito neben
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