Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
Vom Netzwerk:
ihm auf.
    »Alchemie?«
    Er nickt. Und bei der Hitze in ihrem Auge erkaltet etwas in ihm. Denn in diesem Moment beginnt er, sie zu verlieren.

London

    September 2009

    36
    W ir ließen den Lincoln stehen, sobald wir konnten, und stiegen am Bahnhof Osterley in den ersten Zug, der kam. Wir saßen in der Piccadilly Line Richtung Nordosten und Osten, die uns drei nach London brachte, und schlugen uns mit einer Grundsatzfrage herum.
    Wovor waren wir auf der Flucht?
    So weit waren wir uns einig: Ein Fahndungsnetz der Polizei zog sich nicht um uns zusammen. So unorthodox, wie unsere beiden Häscher mit den nur rudimentären Kenntnissen des internationalen Rechts vorgegangen waren, stand für uns fest, dass sie in privatem Auftrag handelten.
    So dass wir nun überlegten, wer dieser Auftraggeber war. Würde er, nachdem er die eine Unterredung mit uns verpasst hatte, für eine zweite ähnliche Mühen auf sich nehmen? Und falls es sich um Bernard Styles handelte, wie Alonzo zu wissen glaubte, verschaffte sein Kapital ihm nicht genügend Mittel, uns zu verfolgen?
    Und falls das zutraf, sollten wir bei jedem unserer Schritte davon ausgehen, dass wir beobachtet wurden – und also beispielsweise bis ans andere Ende von London fahren und uns den Anschein geben, alles Mögliche zu tun, bloß nicht das, was wir taten? Oder sollten wir weitermachen wie zuvor, mit der Gewissheit, dass kein Mensch erriet, was wir vorhatten?
    Wir entschieden uns schließlich für Letzteres, allerdings mit Einschränkungen. Soll heißen, wir quartierten uns in Old Brent
ford ein, einem Vorort im Westen von London, nur wenige Bushaltestellen von Syon Park entfernt. Wir ließen das Holiday Inn und das Travelodge links liegen – sie waren nach Alonzos Ansicht zu bekannt – und schleppten unser Gepäck zum Dragon's Tongue, einer viktorianischen Pension, deren letzte Renovierung zwanzig Jahre her war und deren nächste noch zwei Jahre ausstand. Die Schlüsselanhänger waren schwere Holzklötze aus der Zeit der Damensattel, aber die Fernseher hatten Flachbildschirme, Internetzugang war im Zimmerpreis inbegriffen, und im Pub im Erdgeschoss gab es wasabigrüne breiige Erbsen.
    Das Disraeli-Zimmer ging an Alonzo, weil ihm das dämmrige Zwielicht gefiel. (Ein alter Maulbeerbaum ließ keine Sonne herein.) »Gebt mir eine Stunde«, sagte er und machte die Tür hinter sich zu. »Oder einen Tag«, rief er eine Sekunde später von drinnen. Clarissa und ich schleppten unser Gepäck ins angrenzende, nach Pitt dem Älteren benannte Zimmer, das optimistisch, wenn auch spartanisch eingerichtet war: es gab einen Stuhl aus Rohrgeflecht, eine unechte Mahagonikommode und ein Gestellbett mit altrosa Tagesdecke.
    »Gehen wir heute zum Syon House?«, fragte sie.
    »Eher morgen. Alonzo wird sich nicht mal anziehen wollen, solange wir keinen Plan haben.«
    Sie nickte geistesabwesend, ging zum Fenster, zog die Jalousie auseinander und sah zu den tiefen, dunklen Wolken, die über dem Fluss lagen.
    »Glaubst du, wir finden ihn?«
    »Wie bitte?«
    »Harriots Schatz.«
    »Keine Ahnung.«
    Gleich darauf registrierte ich die Bewegung ihres Körpers neben meinem, die sich in kleinen konzentrischen Wellen über die Matratze fortpflanzte. Das Kitzeln ihres Haars an meinem Hals. Einen Bergamottegeruch.
    »Bist du immer noch müde?«, fragte sie.
    »Mm …« Ich öffnete die Augen. »Vielleicht nicht mehr so sehr.«
    Und als ich das aussprach, war ich es auch nicht mehr.
     
    Meiner Meinung nach ist das lässige Räkeln danach das beste oder zumindest das zweitbeste, wenn man sein Bett mit jemandem teilt: Die Teichformen ihrer Brüste, dein eigenes Geschlecht, das sich in sommerlicher Schlaffheit auf deinem Bein lümmelt.
    »Henry.«
    »Ja.«
    »Erzähl mir was von dir.«
    Ich drehte den Kopf in ihre Richtung.
    »Du meinst, Größe, Gewicht und so.«
    »Wie viel du wiegst, merke ich. Etwas, was du mir vor zwei Tagen noch nicht erzählt hättest.«
    Ich nahm ihre Hand, drückte sie mir wie eine Kompresse an die Stirn.
    »Mm«, sagte ich. »Da fällt mir nichts ein. Ich glaub, du solltest anfangen.«
    Und da erzählte sie mir von ihrem Vater, der an Narkolepsie litt, es sich in seinem Stolz aber nicht hatte nehmen lassen, bei Urlaubsreisen das Auto immer selbst zu fahren. Wodurch jeder Ausflug zu einer Schreckensfahrt geriet, immer wieder unterbrochen durch die ruhige Stimme ihrer Mutter: »Lissie?« Das war Clarissas Stichwort, worauf sie ihrem Vater einen Schlag auf den Kopf verpasste, damit

Weitere Kostenlose Bücher