Algebra der Nacht
dem Ellenbogen. Stell dir das mal vor.«
Ich versuchte es, wirklich. Aber als ich die Augen schloss und an Strände dachte, döste ich wieder ein – und wachte ruckartig auf, als mir im Traum Amory Swales aus dem Sand ragende Hand erschien. Als ich nach einigem Blinzeln wach war, sah ich mich der glatten weißen Ebene von Clarissas Leib gegenüber. Und sie betrachtete mich.
»Vielleicht, weißt du, hab ich auch nur Spaß gemacht«, sagte sie.
»Die Idee ist klasse.«
»Ich weiß.«
»Es ist nur – die Durchführbarkeit …«
»Keine Sorge, Henry. Vergiss es einfach.«
Sie klang nicht zornig, aber ich krabbelte zur Sicherheit trotzdem so nahe an sie heran, bis mein Gesicht direkt über ihrem war.
»Eine Frage noch«, sagte sie.
»Okay.«
»Wenn es nicht wegen Alonzo wäre, würdest du jetzt gehen?«
»Was soll das heißen, wenn nicht? Es ist seinetwegen.«
Sie schwieg, und mit einem tiefen Seufzer rollte ich von ihr herunter. Und sah zur Kassettendecke hinauf.
»Alonzo hat mich aufgenommen«, sagte ich. »Als das niemand sonst getan hätte. Ich bin ihm was schuldig.«
»Das versteh ich doch, wirklich. Ich frage mich nur – ich meine, woher weiß man, wann so eine Schuld abgetragen ist?«
Sie fuhr mit den Fingern von meinem Ohr zum Schlüsselbein wie ein Skispringer über die Schanze.
»Denn falls du jemanden brauchst, der dich aufnimmt, Henry: ich würde es machen.«
Die Einladung nahm ich gerne an. Zumindest fasste ich es als eine auf, und wirklich, als ich mich wieder auf sie wälzte, erblühte ihr Gesicht zustimmend. Erst Tage später, als alles anders geworden war, überlegte ich, ob ich sie eigentlich richtig verstanden hatte.
Die Sonne ging unter, aber ich hätte nicht sagen können, wann. In unserem Zimmer herrschte ein permanentes Zwielicht – verdoppelt durch die Dämmerung, so dass ich jedes Mal einschlief, wenn ich gerade dachte, ich wachte auf. Die Außenwelt machte sich nur schwach bemerkbar: ein pfeifendes Wasserrohr, Fetzen eines lauten Streits auf der Straße, eine Sirene (vielleicht nur eingebildet). Irgendwann hörte ich die Uhr in der Diele die Stunden schlagen. Eins, zwei … nach acht verzählte ich mich … und wäre bestimmt gleich wieder eingeschlafen, wenn ich nicht instinktiv neben mich gelangt hätte. Dort war niemand. Ich fuhr kerzengerade in die Höhe.
»Clarissa?«
Ich spähte in die Schatten und fand sie, nackt, vom Straßenlicht blassgolden übergossen. Nur ein Umriss, der sich langsam füllte, als meine Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnten.
Sie stand am Fenster. Ihre Haare waren vom Schlaf zerwühlt, aber sie stand hoch aufgerichtet und wachsam.
»Clarissa?«
Da drehte sie sich zu mir um. Und blickte so abwesend, wie ich es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte.
»Sie stirbt. Wir müssen ihr helfen. Margaret stirbt.«
37
» G ott steh uns bei«, sagte Alonzo. »Was machen die hier mit ihren Hühnern?«
Er schob sein grau aussehendes Rührei von sich und verschränkte die schweren Arme vor der Brust.
»Und warum kommt uns diese Margaret dauernd in die Quere? Wer ist das überhaupt? Und warum sollte es uns interessieren, wenn sie stirbt?«
»Ich bin nur der Bote«, sagte ich und hob in einer Geste der Kapitulation die Hände.
»Schön, Hermes , falls deine Angebetete sich dazu entschließen sollte, herunterzukommen, dann übermittle doch bitte folgende Nachricht. Wir brauchen langsam mal ein paar neue Visionen. So in Richtung Gold . Falls nötig, buchstabier's ihr. G – o – l – d .«
Ich schob die Bohnen und Champignons auf meinem Teller herum. Ich hatte zwölf Stunden geschlafen und immer noch keinen Hunger.
»Sie hat uns aus einem ziemlichen Schlamassel geholt, Alonzo. Ohne sie wären wir gar nicht hier.«
»Einverstanden.«
»Noch wichtiger ist aber, dass sie ihre Visionen nicht erzwingen kann, das hast du selbst gesagt. Deswegen glaubst du ja daran.«
»Ich bezweifle nicht, dass sie echt sind. Ich bin nur nicht überzeugt, dass sie uns noch etwas nützen.« Er schob sich das letzte Stückchen Wiener in den Mund. »Übrigens, hast du nicht gesagt, sie habe im Flugzeug Ambien genommen?«
»Und?«
»Auf der nicht kurzen Liste der Nebenwirkungen von Ambien wirst du – gleich neben Schlafwandeln – auch Amnesie finden. Eine meiner Cousinen hat zwei von diesen Tabletten genommen und eine ganze Nacht in Dubai eingebüßt. Sie kam zu sich, als sie auf einer Wasserrutsche abwärts sauste.«
»Clarissa hat nichts
Weitere Kostenlose Bücher