Alias XX
sich ihre Füße über den dicken Teppich. Sie kniete sich neben seinen Stuhl. Sie fasste nach seiner rechten Hand, und er zog sie weg.
»Ich heiße Audrey.« Ihre Stimme war sanft, als wollte sie ein Pferd beruhigen. »Mein Vater wurde bei den ersten Luftangriffen getötet, unser Haus brannte mit ihm ab. Er war Hafenarbeiter, ein stolzer, armer Mann. Ich bin Krankenwagenfahrerin, ich hab mich sofort gemeldet, als Freiwillige gesucht wurden – so ein Mädchen bin ich. Oder war ich. Ich hatte kein Zuhause, Tommy, keine Familie, keine Ersparnisse. Genau wie Zehntausende andere Londoner, nur hatte ich mehr Glück, denn als ich ausgegraben wurde, war Inch da. Er hat mir die Stelle hier beschafft. Ich bediene, und ich posiere – das ist alles, was ich mache.«
Tom wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste noch immer nicht, warum sie hier war, mit ihm, in diesem leeren Zimmer, das sich als Sackgasse erwiesen hatte. »Ich muss Earl finden.«
»Wie lange ist es her, dass Sie geschlafen haben?«
»Vierzig Tage und vierzig Nächte.«
»Wie lange halten Sie das noch durch?« Mit den Fingerspitzen berührte sie seinen Unterarm. »Kommen Sie ins Bett.«
Er hob den Kopf.
Sie lachte, und fast hätte er gelächelt. »Allein. Ich deck Sie zu.«
»Bringen Sie mir eine Tasse Tee?«
»Und dann ins Bett?«
»Ja«, sagte er.
Sie stand auf und öffnete die Tür. »Sie haben nicht vor, mich auszusperren?«
»Warum kümmert Sie das?«
»Geben Sie mir Ihr Wort.«
»Sie wollen nicht lieber eine halbe Krone?«
Sie ging über den Teppich auf ihn zu. Er sah zu ihr auf. Sie hatte ein irgendwie komisches Gesicht.
»Sie haben mein Wort, dass ich Sie nicht aussperren werde«, sagte er.
Sie erwiderte etwas, was weich und voll klang, dann ging sie. Er erhob sich. Drehte das Bett um, die Kissen, den Bettkasten, das Kopfbrett. Tastete nach Erhebungen. Überprüfte die dahinterliegende Wand. Nichts.
Er setzte sich auf die Bettkante. Sah zur Uhr. Sein Kopf fiel schwer auf das Kissen, umgeben vom Duft einer Nachtblume. Er schloss die Augen. Er hörte Wasser rauschen, in der Ferne das Geräusch eines Zugs.
14
Mai 1941
In der Ferne das Geräusch eines Zugs. Es gab keine Eisenbahnschienen auf Kreta. Es gab einen Flugplatz, eine holprige Betonpiste ohne Strom, ohne Ausrüstung, ohne Hangars. Es gab eine einzige befestigte Straße, die sich über 240 der 270 Kilometer langen Insel erstreckte, von Kastélli über Chaniá und Réthymnon, dann nach Heráklion und einigen Dörfern, deren Namen Tom niemals erfahren hatte. Dann verlief sie sich irgendwo im Geröll. Das widerfuhr einem auf den Straßen von Kreta häufig – gute, unbefestigte Landstraßen verengten sich zu Fußwegen und schrumpften schließlich zu Gebirgspfaden zusammen, die nur noch für Ziegen passierbar waren. Die eine Hälfte der Brücken hielt militärischen Lasten stand, die andere Hälfte brach darunter zusammen. Aber keiner wusste, zu welcher Hälfte die jeweilige Brücke gehörte. Im Süden erhoben sich die Berge zweieinhalbtausend Meter über das türkisfarbene Meer. Im Norden lag die Zivilisation: einige Häuser mit Strom und Kerosin, ein paar Telefone. Ab und an eine Taverne, in der die Soldaten Bier und Zigaretten kaufen konnten oder das, was dafür gehalten wurde, daneben Ouzo und Retsina und Raki. Oder Wein, wie ihn Tom nie zuvor in seinem Leben getrunken hatte, sowie Oliven und seltsame Gerichte mit seltsamen Namen. Das Gelände war zerklüftet – Felsgestein mit knochenharten Sträuchern, trockene Kiesflussbetten, in die sich gelegentlich Springfluten ergossen. Stachelige Bäume, die auf uraltem, zerbröckelndem Mauerwerk wuchsen, Getreidefelder und Olivenhaine, die sich in Schluchten verloren, die wie Messerspitzen geformt waren. Es gab ein Dorf aus Steinhäusern, eine Kirche mit einem Friedhof und eine Eisenbrücke, die mit drei Bogen einen ausgetrockneten Fluss überspannte und auf der sich Ochsenkarren und Bauern und Nachschublaster drängten. Das Dorf hieß Máleme. Hinter Máleme lag der neue Flugplatz, am Fuß des Berges Kavzakia. Die Höhe 107.
Toms Zug war während der Evakuierung aus Griechenland der neuseeländischen Oakes Force zugewiesen worden. Das zweiundzwanzigste und dreiundzwanzigste Infanteriebataillon waren für die Verteidigung des Flugplatzes zuständig, das einundzwanzigste war als mobile Eingreifreserve für Gegenangriffe vorgesehen, und das achtundzwanzigste Maori-Bataillon stand als Reserve am Brigadehauptquartier. Sie hatten
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