Alias XX
Das Geräusch war aus seinem Rachen gekommen. Er sah auf die Uhr, er hatte drei Minuten geschlafen. Großartig.
Was war noch im Zimmer? Earls Kleidung, die ihm zwei Nummern zu groß war. Ein Koffer. Ein Stück Seife. Ein Regal mit Büchern, deren Rücken alle gleich waren, und ein Kissenbezug, der nach Nachtjasmin duftete. Die Hand des Mädchens auf seiner Brust hatte sich heiß angefühlt. Sie hatte geschickte Finger und leuchtende dunkle Augen. Er könnte mit ihr ins Bett kriechen und Vergangenheit und Zukunft vergessen.
Nein. Das konnte er sich an den Hut stecken. Er ließ die Tür unverschlossen – so viel war sein Wort noch wert. Er drehte das Licht aus, trat durch die Hintertür auf die Außentreppe. Hier im zweiten Stock, ohne Hut und Mantel, ging ihm der Wind durch und durch. Nach fünf Metern entdeckte er die Treppe. Zwei Treppenfluchten bis nach unten, wo er sich auf einem Gelände wiederfand, das ein Parkplatz oder ein Friedhof hätte sein können. Er trat zwischen die dunklen Silhouetten. Schwach roch es nach Motorenöl – also ein Parkplatz. Auf der Straße war es ruhiger als vorher – und kälter. Er musste zur Hyde Street und diesen Änderungsschneider finden, diesen »Misfits«-Laden. Er würde zum Hyde Park gehen, um dort jemanden aufzutun, den er fragen konnte. Er versuchte sich zu orientieren, eine Windbö blies ihm eiskalt durch das Hemd. Aber zuerst wollte er um den Häuserblock herum und Mantel und Hut holen. Der jungen Frau den Kopf zurechtrücken, weil er ihr nicht traute, weil sein Verlangen nach ihrer Wärme und ihrem Duft und ihrer weichen Haut in seinem Magen einen harten Knoten zurückließ. Er konnte sich nur auf eins konzentrieren: Earl aufhalten.
Er hielt sich an die Häuserzeile rechts, umrundete den Häuserblock, dann hellte es sich vor ihm auf. Der Platz. Langsam tastete er sich voran, barg schützend das angezündete Feuerzeug in der Hand und suchte nach dem »Tudor’s«. Er musste die Gasse finden, den Eingang zum Waterfall. Er hörte eisenbeschlagene Räder klappern, knarrendes Holz, was in seinen Ohren weich und melodiös klang. Fast wäre er in den mit Gerümpel beladenen Wagen gefallen. Der Trödler fuhr herum. Irgendwo hatte er eine Öllaterne aufgehängt. Sein Gesicht wurde von einem wild wuchernden Bart verdeckt, die Augen waren dünne Schlitze. Mit seinem groben Kittel und der Schirmmütze sah er aus, als käme er direkt aus den Straßen des neunzehnten Jahrhunderts.
»Na, Chef, suchen Se was, woll’n Se was kaufen?«, sagte er.
»Suche das ›Tudor’s‹.«
»Dort, wo’s immer war …« Der Mann streckte seinen zerlumpten Arm aus und zeigte es ihm. Tom dankte ihm und eilte über den Platz zurück ins Jahr
1941. Harriet hatte gesagt, er könne seinem Verstand nicht trauen. Gut möglich, aber er traute seinen Augen – er erkannte die Markise, »Tudor’s Dry Cleaning and Pressing«. Er kramte in der Tasche nach dem Garderobenschein für seinen Hut und seinen Mantel. Wärm dich auf, geh zur Hyde Street, schnapp dir Earl.
»Oha«, erklang keinen Meter von seinem Ohr entfernt eine hohe Stimme.
»Entschuldigen Sie, Sir«, kam die Stimme eines anderen Mannes. »Könnten Sie mir Feuer geben?«
Der Mann beugte sich in den Lichtschein von Toms Feuerzeug. Er war ein paar Zentimeter kleiner als Tom und ein paar Jahre jünger. Er hatte gewelltes, in der Mitte gescheiteltes Haar, freundliche Augen und einen zu einem breiten Grinsen verzogenen Mund, aus dem weit die großen Zähne hervorstanden.
Er hatte keine Zigarette. Er rammte Tom die Stirn ins Gesicht.
Tom taumelte nach hinten, sein Feuerzeug fiel klappernd in die Dunkelheit. Eine Taschenlampe blendete ihn, und der Mann mit dem Pferdegebiss traf Tom mit zwei schnellen Haken im Magen; zwei weitere Schläge folgten. Saubere Arbeit, schnell und locker ausgeführt, unterstützt von harter Muskelmasse.
Tom stolperte zur Seite und prallte gegen eine Wand. Die Wand trug Wollhosen und einen dicken Mantel. Die Wand sagte: »Vermaledeiter Idiot« und legte ihm eine Hand auf die Schulter – wie ein Raubvogel, der seine Klauen in den weichen Bauch eines Fisches schlug. King Kong. Er trieb seine Faust in Toms Nieren, und die verdunkelte Stadt blitzte weiß auf.
Tom bekam keine Luft mehr, er sah nichts mehr. Orangegelbe Flecken tanzten ihm vor den Augen. Er wurde schlaff.
Er würde zu Boden fallen, sich zusammenrollen – sollen sie sich doch seine verdammte Brieftasche schnappen –, aber Kong ließ ihn nicht fallen. Er
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