Alibi für einen König
Lernschwester habe ich viel Zeit in der National Gallery verbracht. Ich hatte sehr wenig Geld und sehr wunde Füße. Und in der Galerie war es warm und ruhig, und es gab viele Sitzgelegenheiten.« Sie lächelte ein wenig, als sie von ihrer jetzigen Höhe auf das junge, müde und beflissene Geschöpf zurückblickte, das sie einmal gewesen war. »Die Porträtabteilung sagte mir besonders zu. Sie konnte einem das gleiche Gefühl für Proportionen geben wie das Studium der Geschichte. All die Prominenten, die zu ihrer Zeit so viel Lärm und so viel Aufsehen gemacht hatten – nun waren sie nur noch Namen, nur noch Leinwand und Farbe. Damals stand ich oft vor diesem Porträt.« Ihre Aufmerksamkeit wandte sich wieder dem Bild zu. »Ein sehr unglückliches Geschöpf«, sagte sie.
»Mein Chirurg tippt auf Poliomyelitis.«
»Polio?« Sie überlegte. »Vielleicht. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Für mich war es immer abgrundtiefe Traurigkeit. Es ist wohl das unglücklichste Gesicht, dem ich jemals begegnet bin – und ich bin sehr vielen unglücklichen Gesichtern begegnet.«
»Sie sind also der Meinung, daß es nach dem Mord gemalt wurde?«
»Ganz offensichtlich. Er ist nicht der Typ, der die Dinge leicht nimmt. Ein Mann von seiner Beschaffenheit! Er muß sehr genau gewußt haben, wie – verabscheuungswürdig das Verbrechen war.«
»Sie halten ihn also für den Typ, der sich hinterher selbst nicht mehr ertragen kann?«
»Ganz wie Sie sagen! Ja. Das ist der Typ, der etwas unbedingt haben will und dann entdeckt, daß der Preis, den er dafür bezahlt hat, zu hoch war.«
»Sie halten ihn also nicht für einen durch und durch schlechten Menschen?«
»Nein, o nein! Schurken leiden nicht. Und in diesem Gesicht spiegeln sich die grauenhaftesten Qualen.«
Sie betrachteten beide lange und schweigend das Porträt.
»Wissen Sie, es muß ihm wie die Vergeltung vorgekommen sein, daß er so bald darauf seinen einzigen Sohn verlor. Und dann der Tod seiner Frau. In so kurzer Zeit seiner engsten Familie beraubt zu werden, muß ihm doch als göttliches Strafgericht erschienen sein.«
»Glauben Sie, daß er sehr an seiner Frau hing?«
»Sie war seine Kusine, und sie kannten einander von Kindheit an. Also muß sie ihm, ob er sie nun liebte oder nicht, sehr nahegestanden haben. Für jemanden, der auf einem Thron sitzt, ist Verbundenheit wohl ein seltenes Glück... Aber jetzt muß ich mich wieder um mein Krankenhaus kümmern. Ich habe noch nicht einmal die Frage gestellt, deretwegen ich zu Ihnen kam. Wie fühlen Sie sich denn heute? Immerhin ist es ein sehr gutes Zeichen, daß Sie Interesse für einen Mann aufbringen, der seit vierhundert Jahren tot ist.«
Sie hatte ihre Haltung seit ihrem Eintreten nicht verändert. Nun lächelte sie ihr leises, verhaltenes Lächeln und ging, die Hände noch immer vor dem Gürtel verschlungen, auf die Tür zu. Sie war von fast überirdischer Gelassenheit, wie eine Nonne, wie eine Königin.
IV
S ergeant Williams erschien erst nach dem Mittagessen wieder. Keuchend schleppte er zwei dicke Wälzer heran.
»Die hätten Sie aber doch bei der Anmeldung abgeben können«, sagte Grant. »Sie brauchten sie wirklich nicht selbst heraufzutragen.«
»Ich mußte schon selbst kommen, weil ich Ihnen etwas zu erklären habe. Ich konnte leider nur in einen Laden gehen, weil ich keine Zeit hatte. Aber es war der größte in der ganzen Straße. Das da ist die beste Englische Geschichte, die sie auf Lager haben. Die beste, die es überhaupt gibt, haben sie gesagt.« Er legte einen eindrucksvollen, grün gebundenen Wälzer auf den Nachttisch, und auf seinem Gesicht stand zu lesen, daß er keine Verantwortung übernehmen wolle. »Von Richard III. gab’s keine Extra-Geschichte. Ich meine, keine Lebensgeschichte. Aber das haben sie mir noch mitgegeben.« Das zweite Buch sah viel ansprechender aus, ein Wappenschild zierte den Umschlag. Es hieß »Die Rose von Raby«.
»Was ist denn das?«
»Sie war offenbar seine Mutter. Die Rose, meine ich. Ich kann nicht länger bleiben. In fünf Minuten muß ich mich im Yard melden, und wenn ich zu spät komme, frißt mich der Chef. Tut mir leid, daß ich nicht mehr erreicht habe. Ich komme wieder vorbei, sobald ich hier in der Nähe bin, und wenn die Dinger da nichts taugen, will ich versuchen, etwas anderes zu bekommen.«
Grant war von dankbaren Gefühlen erfüllt und sagte das auch.
Williams’ forsch verhallende Schritte im Ohr, begann er in der »besten englischen
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