Alibi für einen König
Herz.«
Grant warf einen Blick auf das Porträt und entschied, daß das Geschichtslesebuch irrte. Was immer Richards Herz bis zum Mord verhärtet haben mochte, Gier war es nicht gewesen. Oder meinte das Geschichtslesebuch vielleicht Machtgier? Wahrscheinlich. Wahrscheinlich.
Aber Richard hatte doch gewiß alle Macht, die ein Sterblicher sich nur wünschen konnte. Er war der Bruder des Königs, und er war reich. War dieser kleine Schritt weiter nach oben so wichtig, daß es sich lohnte, seines Bruders Kinder zu ermorden?
Das Ganze war höchst seltsam.
Er grübelte noch immer über all diese Dinge nach, als Mrs. Tinker mit seinen frischen Pyjamas und ihren täglichen Bulletins zu Besuch kam. Mrs. Tinker bezog ihre Neuigkeiten aus den Schlagzeilen der Zeitung. Über die dritte Schlagzeile eines Berichtes las sie niemals hinaus, es sei denn, es handelte sich um einen Mord. Dann verschlang sie jedes Wort und erstand auf dem Heimweg auch noch eine Abendzeitung.
Heute ergoß sich ihr Kommentar zu einem Giftmord mit Exhumierung pausenlos über Grant, bis sie die Morgenzeitung erblickte, die unberührt neben den Büchern auf seinem Nachttisch lag. Dieser Anblick ließ sie plötzlich innehalten.
»Sie fühlen sich heute wohl nicht besonders?« fragte sie besorgt.
»Doch, Tink, mir geht’s gut. Weshalb?«
»Sie haben ja Ihre Zeitung noch nicht mal aufgemacht. So hat’s bei der Tochter meiner Schwester angefangen. Von da an ging’s bergab mit ihr. Kein Interesse mehr an dem, was in der Zeitung stand.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Mit mir geht es bergauf. Sogar meine Laune hat sich wieder gebessert. Ich habe die Zeitung ganz vergessen, weil ich Erzählungen aus der Geschichte las. Haben Sie je was von den Prinzen im Tower gehört?«
»Na, die Prinzen im Tower kennt doch jeder.«
»Und wissen Sie auch, wie sie umgekommen sind?«
»Klar, weiß ich. Er hat ein Kissen auf ihre Gesichter gedrückt, als sie schliefen.«
»Wer hat das getan?«
»Ihr böser Onkel. Richard III. Sie sollten nicht an solche Sachen denken, wo Sie sich doch nicht wohl fühlen. Sie sollten was Hübsches und Lustiges lesen.«
»Haben Sie es sehr eilig, Tink, oder könnten Sie für mich den Umweg über St. Martin’s Lane machen?«
»Nee, ich hab’ haufenweise Zeit. Soll ich zu Miss Hallard? Die wird nicht vor sechs Uhr im Theater sein.«
»Ja, das weiß ich. Aber Sie könnten einen Brief für sie hinterlassen.«
Er angelte nach Notizblock und Bleistift und schrieb:
»Verschaff mir um Himmels willen ein Exemplar von Thomas Mores Geschichte von Richard III.«
Er riß das Blatt ab, faltete es zusammen und schrieb Martas Namen darauf.
»Sie können es dem alten Saxton am Bühneneingang geben. Der sorgt dafür, daß sie’s bekommt.«
Mrs. Tinker steckte das zusammengefaltete Blatt vorsichtig in ihre billige Kunstlederhandtasche mit den abgestoßenen Ecken, die ebensowenig von ihr wegzudenken war wie ihr Hut. Jede Weihnacht hatte Grant ihr eine neue Handtasche geschenkt, und jede dieser Handtaschen war ein Erzeugnis bester englischer Taschnertradition, ein Kunstwerk von so betörend schöner Form und vollkommener Ausführung gewesen, daß Marta Hallard ohne weiteres damit zum Lunch ins »Claridge« gegangen wäre. Aber keine dieser Handtaschen hatte er jemals wiedergesehen. Da Mrs. Tinker ein Leihhaus für fast so ehrenrührig hielt wie ein Gefängnis, war sie über jeden Verdacht erhaben, seine Geschenke zu Bargeld gemacht zu haben. Grant war zu dem Schluß gekommen, daß sie die Handtaschen irgendwo sicher in einer Schublade verstaut hatte, um sie vorzuzeigen, oder auch nur, um sich an ihrem Anblick zu laben. Vielleicht verschaffte es ihr aber auch einfach Befriedigung, sie in ihrem Besitz zu wissen, so wie es manche Menschen befriedigt, etwas für ihre Beerdigung »zurückgelegt« zu haben. Nächste Weihnacht würde er diesen schäbigen Sack, diesen Allzweckbeutel, den sie da mit sich führte, öffnen und etwas in das Geldfach stecken. Das würde sie natürlich kleinweise verplempern, und am Ende würde sie nicht mehr wissen, was sie damit gemacht hatte. Aber vielleicht waren eine Reihe kleiner Genüsse, die wie schimmernde Pailletten das graue Gewand des Alltags zum Leuchten brachten, mehr wert als die heimliche Befriedigung, eine Sammlung schöner Gegenstände in einer dunklen Schublade zu wissen.
Als Mrs. Tinker sich zur ächzenden Begleitmusik ihrer Schuhe und ihres Korsetts entfernt hatte, wandte Grant sich wieder Mr. Tanner
Weitere Kostenlose Bücher