Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alibi für einen König

Alibi für einen König

Titel: Alibi für einen König Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josephine Tey
Vom Netzwerk:
Geschichte, die es gibt« zu blättern. Es stellte sich heraus, daß es sich um eine sogenannte Verfassungsgeschichte handelte, um eine nüchterne Kompilation, der eindringliche Illustrationen etwas Farbe verliehen. Könige und Königinnen wurden nur am Rande aufgeführt. Tanners Verfassungsgeschichte befaßte sich in der Hauptsache mit dem sozialen Fortschritt und der politischen Entwicklung, mit dem Schwarzen Tod, der Erfindung der Druckerkunst, der Verwendung des Schießpulvers, der Entstehung der Gilden usw. Aber hin und wieder war Mr. Tanner doch gezwungen, einen König oder dessen Verwandtschaft zu erwähnen, und einer dieser zwangsläufigen Gründe hing mit der Erfindung der Druckerkunst zusammen.
    Ein Mann namens Caxton kam aus den Wäldern Kents als Tuchmacherlehrling zu einem nachmaligen Lord Mayor von London und begab sich dann mit den zwanzig Talern, die sein Meister ihm testamentarisch vermachte, nach Brügge. Als eines Tages zwei jugendliche Flüchtlinge aus England im grauen Herbstregen an jenen flachen Küsten erschienen, war es der inzwischen zu Reichtum und Ansehen gelangte Kaufmann aus den kentischen Wäldern, der ihnen half. Die Flüchtlinge waren Eduard IV. und sein Bruder Richard. Und als das Blatt sich wendete und Eduard wieder nach England kam, um es zu regieren, da kam mit ihm Caxton und druckte die ersten Bücher Englands. Sie wurden in Eduards IV. Auftrag gedruckt und von Eduards Schwager verfaßt.
    Grant blätterte weiter. Erstaunlich, wie langweilig Geschichte ist, wenn man sie des Persönlichen beraubt. Die Sorgen der Menschheit sind, wie jeder Zeitungsleser längst weiß, niemandes Sorgen. Liest man von einer totalen Zerstörung, läuft einem vielleicht ein kalter Schauer über den Rücken, das Herz aber bleibt ungerührt. Finden tausend Menschen bei einer Überschwemmung in China den Tod, dann ist das eine Zeitungsnachricht. Ertrinkt aber ein Kind in einem Dorfweiher, dann ist das eine Tragödie. So gesehen, war Mr.Tanners Bericht über die Entwicklung des englischen Volkes zwar bewundernswert, aber nicht aufregend. Nur hie und da, wenn das Persönliche sich nicht umgehen ließ, gewann seine Erzählung ein unmittelbares Interesse. So etwa bei den Auszügen aus dem Briefwechsel der Familie Paston. Die Pastons hatten die Angewohnheit, zwischen ihre Bestellungen von Salatöl kurze Nachrichten von historischem Interesse einzustreuen, und zu diesen gehörte auch der kurze Hinweis, daß die beiden kleinen Yorks, George und Richard, im Londoner Haus der Pastons wohnten und dort täglich den Besuch ihres Bruders Eduard empfingen.
    Grant ließ das Buch einen Augenblick auf die Bettdecke sinken, starrte zu der jetzt unsichtbaren Decke empor und dachte nach. Gewiß hatte noch nie zuvor ein Mann den englischen Thron bestiegen, der den Alltag des kleinen Mannes aus so persönlicher Erfahrung kannte wie Eduard IV. und sein Bruder Richard. Nach ihnen war vielleicht nur noch Karl II. zu nennen. Karl aber war noch in der Armut und auf der Flucht stets ein Königssohn geblieben, ein Mann, der abseits stand. Die beiden kleinen Jungen, die im Haus der Pastons lebten, waren nichts anderes als die Nesthäkchen der Familie York, im besten Falle völlig uninteressant und in dem Augenblick, da dieser Pastonbrief geschrieben wurde, ohne Heim und offenbar auch ohne Zukunft.
    Grant griff nach dem Geschichtsbuch der Amazone, um festzustellen, was Eduard zu diesem Zeitpunkt in London tat. Er erfuhr, daß er eine Armee sammelte. »London war stets yorkisch gesinnt, und begeistert scharten sich die Männer um das Banner des jugendlichen Eduard«, sagte das Geschichtsbuch.
    Und dennoch fand Jung-Eduard – achtzehnjährig, das Idol einer Hauptstadt, und unmittelbar vor dem ersten seiner Siege stehend – noch Zeit, täglich seine kleinen Brüder zu besuchen.
    Grant überlegte, ob die erstaunliche Anhänglichkeit Richards an diesen älteren Bruder wohl aus jenen Tagen stammte. Eine Anhänglichkeit, die ein Leben lang anhielt und die von den Geschichtsbüchern nicht nur nicht geleugnet, sondern regelrecht moralisch ausgeschlachtet wurde. »Bis zu dem Augenblick, da sein Bruder starb, war ihm Richard stets und in jeder Situation ein getreuer und ergebener Helfer gewesen. Doch die Gelegenheit, eine Krone zu erringen, ließ ihn straucheln.« Oder in den schlichteren Worten des Geschichtslesebuches: »Er war Eduard ein guter Bruder gewesen. Aber als er merkte, daß er König werden könne, verhärtete die Gier sein

Weitere Kostenlose Bücher