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Alibi

Alibi

Titel: Alibi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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unterliegt keinem Zweifel. Er ist Friseur im Ruhestand. Sieh dir nur seinen Schnurrbart an.»
    Caroline war anderer Meinung. «Ich kann aus ihm nicht klug werden», sagte sie traurig. «Neulich borgte ich mir von ihm einige Gartengeräte, und er war außerordentlich höflich, aber ich brachte nichts aus ihm heraus. Ich fragte ihn schließlich geradeheraus, ob er Franzose sei, was er verneinte – und irgendwie traute ich mich nicht, weiterzufragen.»
    Nun interessierte mich unser geheimnisvoller Nachbar schon viel mehr. Ein Mann, der imstande ist, Caroline zum Schweigen zu bringen und sie unverrichteter Dinge heimzuschicken, muss eine Persönlichkeit sein.
    «Ich glaube», sagte Caroline, «er besitzt einen von diesen ganz modernen Staubsaugern …»
    Ich sah ihr an den Augen an, dass sie beabsichtigte, sich ihn auszuleihen, wobei sich Gelegenheit zu weiteren Fragen ergeben sollte.
    Dann fand ich eine Möglichkeit, in den Garten zu entfliehen. Ich liebe Gartenarbeit. Eben war ich emsig dabei, Löwenzahnwurzeln auszujäten, als in nächster Nähe ein Warnruf ertönte, ein schwerer Gegenstand an meinem Ohr vorübersauste und dann vor meinen Füßen landete. Es war ein Kürbis!
    Ärgerlich blickte ich auf. Über der Mauer, zu meiner Linken, kam ein Gesicht zum Vorschein. Ein eiförmiger Kopf, teilweise mit verdächtig schwarzem Haar bedeckt, ein ausladender Schnurrbart und zwei kluge, wachsame Augen. Dies alles gehörte unserem geheimnisvollen Nachbarn Poirot.
    Sofort erging er sich in geläufigen Entschuldigungen. Er schien zerknirscht zu sein.
    «Monsieur, ich bitte tausend Mal um Verzeihung. Ich strecke die Waffen. Seit einigen Wochen züchte ich Kürbisse. Heute morgen gerate ich plötzlich über diese Pflanzen in Wut und schicke sie zum Teufel – leider nicht nur in Gedanken, sondern in Wirklichkeit. Ich ergreife den größten. Ich schleuderte ihn über die Mauer. Monsieur, ich bin beschämt. Ich bitte um Verzeihung.»
    Angesichts so tiefer Reue musste mein Zorn schwinden.
    Schließlich hatte mich das unglückselige Gemüse ja nicht getroffen. Doch hoffte ich zuversichtlich, dass dies keine Gewohnheit von ihm war. Der seltsame kleine Mann schien meine Gedanken zu erraten.
    «O nein», rief er. «Seien Sie unbesorgt! So etwas kommt nicht oft vor. Aber können Sie sich vorstellen, dass man sich plagt und müht, um sich schließlich zur Ruhe setzen zu können, und dass man dann plötzlich entdecken muss, wie man sich nach den alten, arbeitsreichen Tagen und seiner früheren Tätigkeit zurücksehnt?»
    «Ja», erwiderte ich langsam. «Ich glaube, es kommt häufig genug vor. Nehmen Sie zum Beispiel mich. Vor einem Jahr fiel mir eine Erbschaft zu – genug, um den Traum meines Lebens zu verwirklichen. Ich sehnte mich immer danach, reisen zu können, die Welt kennen zu lernen. Nun, sehen Sie, das war vor einem Jahr – und heute bin ich immer noch hier.»
    Mein kleiner Nachbar nickte und sagte: «Die Macht der Gewohnheit. Wir streben nach einem Ziel, und haben wir es erreicht, so sehen wir, dass die tägliche Plackerei fehlt. Und dabei müssen Sie bedenken, Monsieur, dass ich einen interessanten Beruf hatte. Den interessantesten, den es auf der Welt gibt.»
    «Ja?», sagte ich aufmunternd. Plötzlich erwachte etwas von Carolines Geist in mir.
    «Das Studium der menschlichen Natur, Monsieur!»
    «Ach!», sagte ich liebenswürdig.
    Offenkundig ein pensionierter Friseur. Wer kennt die Geheimnisse der menschlichen Natur besser?
    «Ich hatte einen Freund – einen Freund, der viele Jahre nicht von meiner Seite wich. Trotz gelegentlicher beängstigender Beschränktheit bedeutete er mir sehr viel: Stellen Sie sich vor, dass mir sogar seine Dummheit fehlt. Seine Naivität, seine ehrliche Wachsamkeit, das Vergnügen, ihn durch meine überlegene Begabung zu überraschen und zu begeistern – all dies vermisse ich mehr, als ich sagen kann.»
    «Ist er gestorben?», fragte ich teilnahmsvoll.
    «Nein, er lebt und gedeiht – aber auf der anderen Halbkugel. Zur Zeit ist er in Argentinien.»
    «In Argentinien», wiederholte ich neidvoll. Immer hatte ich gewünscht, nach Südamerika zu reisen. Ich seufzte und bemerkte Poirots teilnehmenden Blick. Er schien ein verständiger Mann zu sein.
    «Werden Sie hinfahren?», fragte er. Seufzend schüttelte ich den Kopf.
    «Vor einem Jahr wäre es möglich gewesen», sagte ich. «Doch ich war närrisch und schlimmer als närrisch; ich war habgierig. Ich riskierte die Substanz für einen

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