Alice@Hollywood
abgebogen«, erklärt Ruth fröhlich, »Jenny hat irgendwie den Weg nicht richtig beschrieben. Dann ist so eine Touristenkutsche vorbeigekommen. Eigentlich wollte ich direkt zu euch zurückfahren, aber der freundliche Kutscher hat mir die große Central Park Tour zum halben Preis angeboten .«
»Da kann man natürlich nicht nein sagen !« , murmelt Nina säuerlich.
»Stimmt !« , fügt Ruth unschuldig hinzu. »Kann mir jemand dreißig Dollar leihen ?«
Der Kutscher, ein stämmiger Endfünfziger in grauer Uniform mit goldenen Knöpfen, steigt ab und nimmt Ruth in Schutz. Er habe sie überredet. Wir sollten bitte nicht böse sein. Als kleines Trostpflaster würde er auch mit uns eine große Runde zum halben Preis absolvieren, wovon Ruth sofort begeistert ist und wieder einsteigt. Selbstverständlich will sie noch einmal mitfahren. Zögerlich steigt Nina zu ihr auf den Rücksitz, während der Kutscher mir eine Möhre in die Hand drückt und mich ermutigt, sein Pferd zu füttern. Er merkt, dass ich etwas zurückhaltend bin, und drängt mich sanft in Richtung Kopf des Pferdes. Mit Gäulen habe ich schon als Kind schlechte Erfahrung gemacht. Seit ich im Alter von sechs Jahren im Streichelzoo von einem Pony geplumpst und auf meinem damaligen Schwarm Daniel aus der zweiten Klasse gelandet bin, stehe ich mit Kleppern auf Kriegsfuß. Daniel hatte sich das Schlüsselbein gebrochen. Ich wurde von einem Huf am Hinterkopf erwischt.
»No, no. I am not a horse girl !« , versuche ich meine Zurückhaltung zu erläutern.
Das aber scheint den Kutscher nicht zu interessieren. Er besteht sogar darauf, dass ich in einer Art Konfrontationstherapie auf der Stelle meine Angst überwinde. Er greift meine Hand mit der Möhre und führt sie sachte zum Maul des Pferdes. Vorsichtig schnuppert es an dem Gemüse. Scheint ganz friedlich, die Mähre. Doch als der Klepper den Mund öffnet und seine riesigen gelben Zähne zeigt, kriege ich es mit der Angst zu tun.
Ich schrecke zurück und stoße einen kurzen, aber ohrenbetäubenden Schrei aus. Das Pferd erschrickt sich, wiehert, geht hoch auf die Hinterbeine und donnert dann mit Kutsche, Ruth und Nina davon. Alle Rufe und Versuche des Kutschers, das Gespann aufzuhalten, sind erfolglos. Die Karre verschwindet mitsamt ihren Passagieren im Park.
In einer Übersprungshandlung knabbere ich an dem Möhrchen. Der Kutscher funkelt mich böse an. Er greift in seine Tasche. Wahrscheinlich wird er mich jetzt erschießen. Doch dem Himmel sei Dank, er zieht lediglich sein Handy aus der Kutte. Damit alarmiert er seine Kollegen. Wild schimpfend setzt sich der Mann in Bewegung. Ich nutze die Gelegenheit, mich klammheimlich zu verdrücken. Vom Apartment aus beobachten Jenny und ich durch das Teleskop, wie drei starke Männer das Pferd stellen und den unfreiwilligen Ausflug der beiden Grazien beenden.
Das Versprechen, sich nie mehr im Central Park blicken zu lassen, ist alles, was sie für die Eskapade berappen müssen.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen bei Seeds and Fruits, einem Ökoladen mit frischem Obst und Gemüse, in den Jenny uns als Respektsbekundung Ruth gegenüber geschleppt hat, können wir bereits über den Vorfall lachen.
»Bei der ganzen Aufregung hat der Typ sogar vergessen, dass ich ihm noch dreißig Dollar schulde«, verkündet Ruth und beißt; zufrieden in eine Selleriestange. Wir bestellen uns noch einen Papaya-Zwiebel-Shake, der angeblich das Lustempfinden steigern soll, und beratschlagen die Gestaltung des Nachmittags. Relativ schnell einigt man sich auf - Shoppen. Ich allerdings werde nicht mitkommen .. Ich habe etwas Besseres vor: Es ist an der Zeit, Steve aufzusuchen.
Steve wohnt mitten in Soho, dem Viertel der Künstler und Lebenskünstler, in einer Studenten-WG. Als ich vor dem mehrstöckigen Backsteinhaus aus dem Taxi steige, merke ich, dass ich etwas aufgeregt bin. Hier in der Nähe hat also Edgar Allen Poe gewohnt. Das interessiert mich gerade herzlich wenig. Über drei Monate habe ich Steve nun nicht mehr gesehen. Aber wir haben uns regelmäßig geschrieben. Keine E-Mails, sondern richtige Briefe. Auf echtem Papier. Ich habe mir dafür eigens einen megateuren Pelikan-Füller gekauft. Das Briefeschreiben hat für Steve und mich eine ganz besondere Bedeutung. Es ist ein Akt des »Sich-Zeitnehmens«. Ich habe die Stunden, in denen ich meine Worte zu Papier brachte, regelrecht zelebriert. Kerzen an, ein Gläschen Wein, leise Musik und das Foto von Steve vor mir auf dem
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