Alice@Hollywood
Ich bekam mitunter das Gefühl, er kenne mich besser als ich mich selbst. Hin und wieder zitierte Steve Gedichte von Walt Whitman oder Allen Ginsberg. Und jedes Mal trafen die Verse genau meine Stimmung. Ich kriege Schmetterlinge im Bauch bei dem Gedanken an ihn. Jetzt bin ich fast vor seiner Tür. Aber vielleicht ist Steve hier, in seiner gewohnten Umgebung, ganz anders? Wie ein Zootier, das man im vertrauten Gehege liebgewonnen hat und streicheln darf, das sich aber in freier Wildbahn plötzlich nicht so verhält, wie man es gewohnt ist. Hier sind seine Kumpels, vor denen muss er bestimmt den coolen Baseballer raushängen lassen, der bei seinem Deutschlandaufenthalt reihenweise Cheerleader flachgelegt hat. Und dann komme ich, die Onlineredakteurin Anfang dreißig mit mittelprächtigem Busen und schlaffem Po und bin auch noch völlig durchnässt, als sei neben mir ein Hydrant explodiert. Möglicherweise ist das alles hier ein großer Fehler. Er wird mich abservieren wie John Travolta seine Olivia Newton John in »Grease«. Der »leader of the pack« muss cool bleiben vor seiner Gang. Ich werde mich komplett lächerlich machen.
Endlich finde ich das Apartment mit den drei bekannten Namen am Schild. Es gibt keine Klingel, aber einen leicht angelaufenen Messingtürklopfer. Noch kann ich umdrehen. Steve weiß ja nicht, dass ich ihn besuchen will. Ich hatte mein Kommen in meinem letzten Brief lediglich angedeutet, aber nicht konkret angekündigt. Ich kann nach Deutschland zurückfliegen und Steve schreiben, ich käme vielleicht Weihnachten oder nächstes Himmelfahrt mal vorbei. Und überhaupt, wieso soll ich denn nach New York fliegen, um ihn zu sehen? Wenn ihm etwas an mir liegt, dann soll er gefälligst seinen Arsch nach Deutschland bewegen. Genau. Das werde ich ihm schreiben. Ich kann jetzt nicht klopfen. Ich werde wieder gehen. Und sein tolles Lachen und seine Küsse verpassen. Reiß dich zusammen, Alice. Es wird ganz normal laufen. Wir werden uns etwas schüchtern begrüßen, dann im Wohnzimmer nebeneinander sitzen, Kaffee trinken und über die Reise plaudern. Es wird etwas dauern, bis das Eis gebrochen ist und wir uns wieder annähern. Das ist ganz normal. Danach wird alles richtig toll: Wir werden eine großartige Zeit miteinander verbringen. Und am Ende fragt mich Steve womöglich, ob ich nicht hier bleiben und für immer mit ihm leben möchte. Oh, mein Gott. Was mache ich dann? Ich kann doch nicht meine Zelte zu Hause abbrechen und Hals über Kopf nach Amerika ziehen. Hier, wo jeder eine Pistole in der Tasche hat, nur dann nicht, wenn man sie für einen Startschuss im Central Park brauchen könnte. Wir können nicht heiraten. Meine Mutter leidet unter Flugangst, und sie würde niemals in einen Flieger steigen, um ihre Tochter in New York zu besuchen. Ich werde meine Familie womöglich nie wieder sehen. Ich beginne zu hyperventilieren.
Hallo, was passiert eigentlich hier? Ich versuche ruhig zu atmen und gebe mir selbst ein paar heftige Ohrfeigen. Autsch. Das saß! Aber wenigstens bin ich jetzt wieder einigermaßen klar im Kopf und bereit, meinem Traummann gegenüberzutreten. Na ja, vielleicht ist Traummann übertrieben. Im Grunde ist es ja nur so eine Art Urlaubsbekanntschaft, mit der man Adressen ausgetauscht und später ein paar Briefe gewechselt hat. No big deal. Ich werde kurz hallo sagen und wieder gehen. Stopp. Stopp. Stopp. Jetzt ist aber gut. Um den Selbstläufern in meiner Gedankenwelt Einhalt zu gebieten, greife ich beherzt zum Türklopfer und lasse den schweren Metallring gegen die Messingplatte knallen. Peng. Noch einmal. Peng, peng. Nichts tut sich.
»Hallo! Ist jemand zu Hause ?«
Vier, fünf weitere Male betätige ich den Türklopfer, doch von drinnen ist keine Reaktion zu vernehmen. Alle ausgeflogen. Mist. Ich hätte mich wohl doch besser konkret angekündigt. Was ist, wenn Steve sich überlegt hat, mich gerade jetzt in Deutschland zu besuchen. Vielleicht steht er in dieser Sekunde vor meiner Tür und denkt sich: »Blöde Kuh! Da macht man eine halbe Weltreise, um Alice zu sagen, dass man Kinder mit ihr haben will, und sie ist nicht zu Hause !« Moment. Das geht mir alles viel zu schnell. Erstens will ich zur Zeit noch keine Kinder, und zweitens ist Steve mit Sicherheit nicht in Deutschland, sondern hat gerade noch einen Sportkurs und kommt erst am Abend zurück. Noch einmal geklopft. Keine Antwort. Auch gut. Ich ziehe unverrichteter Dinge wieder ab. Komme ich halt später nochmal. So habe
Weitere Kostenlose Bücher