Alice at Wonderland
Guten vollständig auf meine Seite gezogen.
Ich verziehe mich kurz auf die Toilette, um einen Mo ment der Ruhe genießen zu können. Heißt ja nicht umsonst »Stilles Örtchen«. Als ich zurückkehre, merke ich sofort, dass irgendwas faul ist. Der Ausdruck in Carl-Uwes Au gen hat sich verändert. Da sitzt jetzt was Diabolisch-Süffisantes drin. Und noch so eine leicht unverschämte Note, als könne er durch meine Kleidung durchsehen. Mein Blick fällt auf meine Tüte, die nicht mehr so daliegt wie eben, als ich aufgestanden bin. Hat der etwa ...? Und wo möglich sogar in den Umschlag ... ? Meine aufkommende Bestürzung wird zunächst noch von Ärger über mich selbst gedämpft. Ich Idiotin. Wieso hab ich die dämliche Tüte nicht im Auto gelassen? Ich stehe eine Millisekunde zu lang wie eine Idiotin da. Sein Blick folgt meinem zur Tüte und zurück.
»Oh, Ihre ...«, er sucht nach dem passenden Ausdruck, »... Tasche ist vom Stuhl gefallen.«
Um seine Mundwinkel malt sich dasselbe Grinsen wie bei dem Skateboardtyp im Fotolabor. Natürlich, von ganz alleine vom Stuhl gefallen, du Schwein. Oh, mein Gott. Er hat mich in der Hand. Im Zusammenhang mit Jennys abenteuerlichen Fotos machen auch meine Klamotten in der Tüte alles andere als einen unverfänglichen Eindruck. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich kündige auf der Stelle, oder er wird mich erpressen. Ich werde je den Tag nach Feierabend für ein paar »spezielle Dienste« auf der extrabreiten Couch seines Büros Platz nehmen müssen. Gut, es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Ich bringe Jenny um, dann müsste ich mich um den Rest mei nes Lebens nicht mehr groß sorgen. Ich würde eine Knast- Zeitung entwerfen und jeden Tag nach Feierabend für ein paar »spezielle Dienste« auf die extrabreite Pritsche einer Aufseherin ...
Seine Stimme holt mich zurück. »Wissen Sie, was ich glaube, Alice?«
»Nein«, sage ich mikroskopisch kleinlaut, und ich habe
das Gefühl, dass nicht ich es bin, die da gerade geantwor tet hat.
»Sie sind eine Frau mit einigen, wie soll ich sagen, be merkenswerten Eigenschaften«, höre ich durch eine Wand aus Watte. Himmel, hol mich jetzt. Das ist der richtige Augenblick.
»So? Finden Sie?«, entgegne ich mit brüchiger Stimme. Ein letzter Rest Überlebenswille rührt sich und faucht mich an: Jetzt frag den nicht auch noch, wieso, du dus selige Kuh. Vielleicht hat er ja gar nicht ... Ich versuche, mit einem Blick festzustellen, ob er hat oder nicht. Dazu müsste ich das Kuvert aber herausholen. Und wenn er nicht hat, wird er spätestens dann fragen, was drin ist. Und das werde ich nicht überstehen. Flucht nach vorn, Alice. Ich klatsche übertrieben fröhlich in die Hände:
»Ich denke, wir sollten uns aufmachen. Dann haben Sie noch etwas Zeit, sich auf die Mitarbeiterversammlung vorzubereiten. Frisch machen und so. Vielleicht können sich ja auch die Mitarbeiter ... irgendwie ... frisch machen oder so. Mario! Wir möchten zahlen!«
Carl-Uwe sieht mich an, als überlege er, wo er auf die Schnelle eine Zwangsjacke herbekommt. Ich zücke mein Portemonnaie. Eine taktische Maßnahme. Wie erwartet, winkt er generös ab und holt seine Brieftasche hervor. Die immer noch wirksame Etikette, eine Frau nicht be zahlen zu lassen, lenkt ihn hoffentlich von diesem zwei deutigen Geplauder ab. Es funktioniert nicht hundert prozentig.
»Sie haben Recht, Alice. Ich halte Sie nur von der Arbeit ab.«
Beim Wort Arbeit sieht er mir für meinen Geschmack etwas zu tief in die Augen.
Die Ablenkung, die im Restaurant nicht geklappt hat, klappt dann draußen, allerdings anders, als ich mir das vorgestellt habe. Der Wagen springt nicht an. Kein Mur ren der Batterie, kein Rasseln des Anlassers, gar nichts.
»Das verstehe ich nicht. Wie kann denn die Batterie auf einmal leer sein?«
Da ist der Mann in seinem Element. »Es ist nicht die Batterie. Sieht aus wie eine Fehlfunktion der Elektronik. Die Wegfahrsperre ist nicht abgeschaltet.«
Herzlich willkommen im Hightech-Wonderland.
»Und jetzt?«, frage ich halb blöd und halb beeindruckt von seinem Fachwissen.
»Vor zehn Jahren konnte man noch jeden liegen ge bliebenen Wagen mit einem Imbus-Schlüssel und einem Stückchen Leukoplast wieder ans Laufen kriegen«, fa buliert er drauflos, »aber heute? Nichts zu machen. Der muss in die Werkstatt.« Und dann bestimmt er zackig: »Wir nehmen ein Taxi.«
Taxi, logisch. Dafür ist er ja Chef. Immer fix eine Lö sung parat. Wär mir auch eingefallen,
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