Alice at Wonderland
noch etwas Zeit. Während die Vorzimmerda me zwei Tassen Kaffee zubereitet, die Stimme ihres Herrn verdoppelt die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen, rattert der Kopierer. Sie lächelt mich an: »Ist gleich fertig.«
Ich nicke mit eingefrorenem Grinsen, auf den heißes ten Kohlen meines Lebens sitzend. Als sie endlich im Büro verschwunden ist, öffne ich die Tasche. Und da ist es. Mein Kuvert. Ich kann nicht fassen, dass er es wirk lich getan hat. Blitzschnell fische ich das Kuvert heraus, schnappe mir meine fünfzig Kopien und fliehe auf leisen Sohlen. So, du kleiner Bastard, das Spiel ist aus, denke ich mit Genugtuung. Ich knalle Katja den Stapel Papier auf den Tisch.
»Was'n das?«, nuschelt sie. Sie hat sich kürzlich die Zun ge piercen lassen und ist noch nicht dahinter gekommen, dass Kaugummi kauen damit eine echte Herausforderung ist. Bevor ich ihr antworten kann, hat mich wieder mein Chef am Wickel.
»Sag mal, wo treiben Sie sich eigentlich rum? Was ist mit dem Update?«
»So gut wie erledigt«, antworte ich mit neuer Energie.
»Ja, aber zack-zack«, raunzt er, »in einer Stunde ist Mit arbeiterversammlung mit Herrn Bartholomäus!«
»In der Ruhe liegt die Kraft«, rutscht es mir heraus. Ich hätte Vorzimmerdame werden sollen. Als ich mich wieder umdrehe, entdecke ich auf dem Tisch meiner Volontärin die fünfzig Kopien, aber nicht den Umschlag.
»Wo ist der Umschlag?«, frage ich entsetzt.
»D ... d ... den hat Björn«, stammelt sie. Ich lockere den Griff um ihren Hals.
»Wieso hat Björn meinen Umschlag?«
»Für die Graphik. Waren da nicht die Scans für das Up date drin?«
Mein lauter Aufschrei schreckt nur einen Neuling von seinem Computer hoch. Die Übrigen haben den Groß raum-Konzentrationstest bereits bestanden.
Die Graphik befindet sich im dritten Stock eines an grenzenden Gebäudes, und Björn hat einen maximalen Vorsprung von drei Minuten. Wollen doch mal sehen, wer schneller ist. Ein achtzehnjähriger Praktikant auf einem
Kickboard oder eine mit Adrenalin voll gepumpte Hyste rikerin im engen Kostümrock. Wenn ich es nicht rechtzei tig schaffe, landet Jenny tatsächlich im Internet. Auf unse rer Homepage, erstellt unter meiner Verantwortung. Wir haben nicht einmal Erotik-Clips im Nachtprogramm, mit denen ich das entschuldigen könnte. Björn ist allein des halb schneller, weil er weiß, in welchem der drei Graphik-Studios er die Scans abzuliefern hat, und ich muss erst alle abklappern. Und natürlich ist es das letzte. Und dort sitzt der Graphiker, das leere Kuvert vor sich und reißt gerade den Umschlag auf.
»Nein!«, schreie ich, »das ist privat. Das sind meine.«
Zu spät. Er hat die ersten Abzüge in der Hand und schaut aufs Äußerste konsterniert.
»Okay«, sage ich matt, »es ist nicht das, wonach es aus sieht. Es ist... es ist Kunst.«
Auf dem Gesicht des Graphikers macht sich Fassungs losigkeit breit. Ich höre förmlich, wie die Achtung vor meiner Person den Raum verlässt.
»Oh Mann, Alice«, sagt er schwer betroffen, »wenn das Kunst ist, hast du ein echtes Problem.«
Innerlich sacke ich zu einem Häufchen Asche zusam men. Der Abteilungsleiter weiß es, jetzt weiß es die Gra phik, morgen ist es im ganzen Haus rum.
»Also das ... wie soll ich, ich meine, das ist doch jetzt nicht so 'n Drama. Nur ein bisschen Spaß.« Eine leise Wut auf Jenny mischt sich in mein Gestottere. »Und über haupt. Ich bin's ja nicht, die da rumliegt.«
»Das war ja auch noch schöner«, entgegnet der Graphi ker mit einem Maximum an Vorwurf, »nur ein bisschen Spaß. Du brauchst einen Psychiater.«
Er reicht mir den Umschlag und die Bilder. Nichts hätte mich auf diesen Anblick vorbereiten können. Auf zwan zig Abzügen in zugegebenermaßen perfekten Farben ist der komplette Ablauf einer Beerdigung zu sehen. Und an dem offenen Grab steht Carl-Uwe Bartholomäus.
»Ach du heilige Scheiße«, entfährt es mir, »da hat wohl jemand was verwechselt.«
Ich nehme Bilder, Umschlag und Kuvert und lasse ei nen Graphiker zurück, der wohl noch eine Weile die Stra ßenseite wechseln wird, wenn er mich kommen sieht. Von der frustrierten Ziege mit fragwürdigem Sexualleben zum Grufti mit Hang zu morbiden Inszenierungen. Wenn die Dinge schon ins Gleiten geraten, dann aber auf gut ge wachsten Kufen. Warum hat der Blödi nicht Urlaubsbil der in der Tasche wie jeder andere auch? Es wäre leichter gewesen, eine glaubhafte Erklärung dafür zu liefern, wie ich es an einem einzigen Wochenende geschafft
Weitere Kostenlose Bücher