Alice at Wonderland
dass Zsa Zsa Gabor ursprünglich Sari hieß und 1936 Miss Ungarn war. Eine Stunde später bin ich immer noch allein im Wartezimmer, und mich beschleicht das Gefühl, dass ich hier nicht auf meine Be handlung warte, sondern eine Strafe fürs Zuspätkommen abbrumme. In dem Moment öffnet sich die Tür, und eine weitere Patientin tritt ein. Ich muss zweimal hinsehen, bis ich erkenne, dass es Lissy ist. Sie ist aufgetakelt, als wolle sie zum Wiener Opernball. Erst, als sie sich umständlich aus fünf Quadratmetern Nerz gepellt hat, erkennt sie mich.
»Alice? Na das ist ja eine Überraschung. Willst du auch zum Zahnarzt?«, blubbert sie los, während sie ihre knapp hundert Kilo auf die beiden Stühle neben mir schwingt.
»Nein. Ich warte hier auf den Bus«, entgegne ich.
Das hält sie für eine gute Idee, denn draußen habe es an gefangen zu nieseln. Humor ist nicht ihre Stärke, das hät te ich mir denken können, also belasse ich es dabei. Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander, und ich habe das Gefühl, Lissy wartet darauf, dass ich sie frage, ob sie denn zum Zahnarzt will. Den Gefallen tue ich ihr nicht, was die Gute aber nicht weiter stört. Sie wendet sich zu mir, als wolle sie mir ein lang gehütetes Geheimnis anver trauen.
»Parodontose-Prophylaxe!«, raunt sie mir das Schlüsselwort zu. Viermal im Jahr ließe sie das machen, erklärt mir Lissy, und Zahnstein entfernen und Zahntaschen säubern seien hier im Übrigen auch Weltklasse. Und dann gerät Lissy erst richtig in Fahrt. In blumigen Wor ten schildert sie mir ihre erste Wurzelbehandlung und die Entfernung eines Weisheitszahns, der noch im Kiefer in mehrere Bruchstücke zersplittert war, die sich zudem
auch noch verkantet hatten. Ihre masochistischen An wandlungen kann sie in dem Bericht nur schwerlich ver heimlichen, und allmählich wird mir auch klar, warum sich Lissy so dermaßen herausgeputzt hat. Für sie ist der Zahnarztbesuch tatsächlich ein Fest. Liebevoll beschreibt sie Bohrer und Zahnsteinhaken wie ein Folterknecht seine Daumenschrauben. Als sie mir dann noch rät, mir niemals eine Narkosespritze geben zu lassen, denn der Schmerz sei wesentlich angenehmer als die Vorstellung, der Kiefer bleibe für immer taub (so was soll ja öfter vorkommen), dreht sich mir der Magen um. Ich stürze an der Sprechstundenhilfe vorbei, die mich gerade aufrufen will, quer durch den Empfang und raus auf die Straße. Ob ich einen neuen Termin wolle, ruft die Vorzimmerdame mir hinter her, aber Lissy erklärt ihr, ich hätte hier ja nur auf den Bus gewartet.
Okay, denke ich, während ich den Punkt Zahnarzt von meiner imaginären Liste abhake, ich habe ja keine Schmerzen. Wenn ich weiter viel Zahnseide benutze, kann ich ohne weiteres mehrere Jahre ohne Wurzelbehandlungen, Prophylaxe oder Karies über die Runden kommen. Kurz überlege ich, ob ich mir die Praxisgebühr wiederholen soll. Dann verwerfe ich aber den Gedanken, weil ich finde, zehn Euro für diese Lektion sind ein fairer Preis.
Mein nächster Weg führt mich zum Stadthaus. Vor ein paar Tagen habe ich eine Benachrichtigung bekommen: Mein alter Personalausweis sei abgelaufen und das Foto darauf ohnehin superscheußlich. Womit sie zweifellos Recht haben, denn vor zehn Jahren trug ich noch einen Pony und sah aus wie Laura Ingalls, kurz nachdem sie von der Postkutsche gerammt wurde.
Ich vergewissere mich, dass ich meine neuen Passfotos dabeihabe. Die sind echt ziemlich gut geworden, wie ich finde. Ich habe sie am Tag nach dem One-Night-Stand mit
Jan machen lassen und sehe darauf aus wie eine Frau, die nur ein paar Stunden zuvor noch Sex hatte. Was auch dem Fotografen auffiel. Letztlich hat er aber eingesehen, dass seine ständigen Bemerkungen während der Fotosession taktlos waren, und mir die Passbilder umsonst überlassen. Genauso wie einen gelb-blau gestreiften Pappkarton für Fotos und seine Telefonnummer.
Ein Wegweiser im Stadthaus führt mich zum Wartebereich. Dort verbringe ich die nächste halbe Stunde, bis mir ein freundlicher Ausländer den Sportteil der Hürriyet an bietet und mich darauf hinweist, dass ich mir besser eine Nummer ziehen sollte, wenn ich heute noch drankommen wolle. Ich ziehe die Nummer 467, als die Anzeigentafel gerade die Frau mit der 233 an Schalter neun bittet. So wie es ausschaut, habe ich nur schlappe 234 Leute vor mir. Sollte jeder nur eine Sekunde brauchen, wäre ich in knapp vier Minuten an der Reihe. Mit dem Gedanken kann ich mich anfreunden, finde ich, als ich
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